© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/14 / 17. Oktober 2014

„Das war so ’n richtiger Krieg“
Reportage: Wegen des blutigen Konflikts in Syrien haben sich in Celle und Hamburg junge Kurden Straßenschlachten mit Islamisten geliefert
Hinrich Rohbohm

Lezgin kann es noch immer nicht fassen. Der 34 Jahre alte Kurde steht auf jenem Supermarktparkplatz, auf dem er noch vor wenigen Tagen die dramatischen Ereignisse miterlebt hatte, als sich Kurden, Tschetschenen und Salafisten im niedersächsischen Celle eine Massenschlägerei lieferten. Mehrere hundert Jesiden hatten sich da auf dem Parkplatz versammelt. „Wir wollten Präsenz zeigen“, sagt der Mann, der ebenfalls der jesidischen Glaubensgemeinschaft angehört.

Für die Islamisten sind Leute wie Lezgin Teufelsanbeter. Entsprechend aufgeheizt war die Stimmung, als es in der Nacht vom 6. auf den 7. Oktober in der Fuhsestraße von Celle zu einer regelrechten Straßenschlacht zwischen jesidischen Kurden, tschetschenischen Islamisten und von außerhalb angereisten Salafisten gekommen war.

„Sie haben gedroht, uns die Köpfe abzuschneiden“

Angefangen hatte alles mit einem harmlosen Streit zwischen einem tschetschenischen und einigen kurdischen Jugendlichen. Worum es ging und wer angefangen hatte, das kann oder will heute kaum einer so richtig sagen. Von Meinungsverschiedenheiten zwischen einer moslemischen und einer jesidischen Familie ist zudem die Rede, die durch den aktuellen Konflikt in der syrischen Grenzstadt Kobane neu und um so heftiger aufflammte. Angeblich haben kurdische Jesiden einen Tschetschenen aufgrund seines Bartes für einen Salafisten gehalten, lautet eine weitere Version.

Was auch immer der wahre Anlaß für den Beginn der Auseinandesetzung gewesen sein mag, er führte dazu daß beide Seiten per Mobiltelefon und Internet Verstärkung anforderten. Im Celler Stadtteil Neuenhäusen trafen die verfeindeten Gruppen schließlich aufeinander. Was folgte, war eine Massenschlägerei, bei der es der Polizei nur mit einem Großaufgebot an Beamten gelang, die Kontrahenten auf Distanz zu halten. Mehrere hundert Menschen wüteten auf den Straßen, griffen Polizisten mit Holzlatten, Flaschen und Steinen an.

Über die sozialen Medien soll auch der als islamischer Haßprediger bekannte Pierre Vogel den Konflikt angestachelt haben, indem er Moslems dazu aufgerufen habe, nach Celle zu fahren, um gegen die Jesiden vorzugehen.

Lezgin tippt kurz auf seinem Mobiltelefon, zeigt dann den Aufruf im Netz. „Das Profil kann natürlich auch ein Fake sein, aber den Aufruf hat es definitiv gegeben.“ Drei salafistische Familien würden in Celle leben, meint er. „Die meisten aber kamen von außerhalb. Sie haben damit gedroht, uns die Köpfe abzuschneiden.“ Der selbständige Mietwagenfahrer lebt bereits seit 30 Jahren in Deutschland. Daß die Medien jetzt davon berichten, daß Celle mit rund 7.000 Mitgliedern die größte Jesiden-Gemeinde in Deutschland beheimatet, gefällt ihm nicht. „Im Moment sind die Salafisten mit dem Irak und Syrien beschäftigt. Aber später erinnern sie sich vielleicht daran, daß hier in der Stadt viele von uns leben.“ Einen Völkermord an den Kurden durch Islamisten habe es in der Geschichte schon des öfteren gegeben.

Ähnlich besorgt zeigen sich die Männer im jesidischen Kulturzentrum. „Viele von uns sind nach der Schlägerei nicht mehr zur Arbeit gegangen“, sagt einer von ihnen. Er berichtet von einer Begebenheit in einem Celler Schnellrestaurant, in dem mehrere Jesiden arbeiten. Salafisten seien gekommen, hätten die Angestellten bedroht und sie als „Teufelsanbeter“ beschimpft. Mütter würden aus Angst ihre Kinder nicht mehr in den Kindergarten bringen.

Durch die Fuhsestraße fahren unentwegt Polizeifahrzeuge. Angeblich habe es in der Islamistenszene einen neuen Aufruf gegeben, nach Celle zu kommen. „Was bringt das denn, wenn die hier durchfahren, die müssen am Bahnhof und auf den Straßen Kontrollen durchführen, um den Salafisten rechtzeitig ihre Waffen abzunehmen“, fordert jemand aus dem Kulturzentrum.

„In anderen Ländern sind sie nicht so zimperlich wie bei uns“, meint Heiko, ein Deutscher, der sich ebenfalls im Kulturzentrum aufhält. Er wünscht sich, daß sich mehr Deutsche mit den Kurden gegen die Islamisten solidarisieren. Daß sie jetzt ebenso wie die Islamisten als Gewalttäter abgestempelt werden, verärgert sie.

„Wir leben seit Jahrzehnten friedlich in Deutschland. Wenn Deutsche sich neben uns einreihen, würden wir die Polizei nicht angreifen“, meint ein Kurde mit kahlrasiertem Hinterkopf, der die Deutschen gleichzeitig pauschal als „Kinderschänder“ beschimpft und sein eigenes Volk als „moralisch anständiger“ bezeichnet. Allerdings muß er einräumen, daß auch Kurden sich gegenüber der Polizei gewaltbereit gezeigt haben.

Ein 36jähriger Deutscher kurdischer Abstammung etwa war mit einem Wagen auf einen Polizeibeamten zugerast, hatte erst im letzten Augenblick vor ihm gestoppt. Ein 50jähriger Kurde befindet sich wegen gefährlicher Körperverletzung in Untersuchungshaft.

Ignoranz der Deutschen gegenüber den Islamisten

„Diejenigen, die erst in den neunziger Jahren nach Deutschland gekommen sind, haben noch einen viel größeren emotionalen Bezug zur jetzigen Krisenregion“, versucht Lezgin die Aggressivität mancher seiner Landsleute zu erklären. Bei ihnen bestünde nach wie vor intensiver Kontakt zu Freunden, Nachbarn und Familienmitgliedern vor Ort. Er selbst lebe dagegen schon seit 30 Jahren in Deutschland, fühlt sich gut in der Gesellschaft integriert. Natürlich bewegen auch ihn die dramatischen Ereignisse in der Stadt Kobane. „Aber ich habe schon nicht mehr einen so starken emotionalen Bezug zu der Gegend.“

Doch die Passivität und Ignoranz der Deutschen gegenüber den Gefahren fanatisierter Islamisten bewegt auch ihn. Lezgin streckt die Hand aus, zeigt anklagend zu einem roten Haus gegenüber dem Supermarkt. „Bei denen lief der Fernseher, als sich hier Kurden und Islamisten gegenüberstanden. Die haben auf den Bildschirm gestarrt und nicht mal aus dem Fenster gesehen.“ Für ihn ein symptomatisches Bild. „Die Deutschen interessiert das alles gar nicht. Sie haben noch gar nicht begriffen, daß die Islamisten auch ihnen als Ungläubigen den Kopf abschlagen wollen, obwohl die Salafisten das immer wieder ganz offen aussprechen.“

Doch auch auf die Jesiden ist in dem betroffenen Stadtteil nicht jeder gut zu sprechen. „Die machen auch oft genug Probleme“, meint ein Anwohner, der die Massenschlägerei mitbekommen hatte, bei der alle Beteiligten „wie von Sinnen“ gewesen seien. Die Polizisten hätten ihm leid getan. „Die mußten ihren Kopf hinhalten, um die Gruppen voneinander zu trennen, und selbst dürfen sie doch kaum was machen. Wenn sie sich verteidigen, fallen ihnen unsere Politiker zum Dank in den Rücken.“ Sein Nachbar wird noch deutlicher: „Wenn Kurden und Tschetschenen meinen, ihre Probleme aus der Heimat bei uns mit Gewalt zu lösen, dann muß der Staat zu ihnen auch mal ganz klar ‘tschüß’ sagen.“

„Es ist mir ganz egal, ob da nun die Kurden, die Tschetschenen oder irgendwelche Salafisten angefangen haben. Wir leben hier in einem Rechtsstaat und da gibt es Gesetze, die auch für diese Gruppen zu gelten haben“, meint ein aufgebrachter Mann in der Celler Innenstadt. „Die Polizei muß da einfach entschiedener durchgreifen, es kann nicht sein, daß die hier ihren Krieg in unserer Stadt austragen“, fordert der 35 Jahre alte Kfz-Mechaniker.

Doch Celle ist nur eine von mehreren Städten, in denen Kurden und Islamisten sich Straßenschlachten lieferten. Auch in Hamburg trafen die verfeindeten Gruppen aufeinander. Am Steindamm im ohnehin als Problemstadtteil bekannten St. Georg gingen 400 Kurden und ebenso viele radikale Moslems mit Eisenstangen, Macheten, Döner-Spießen, Messern, Schlagringen und Steinen in der Nähe der Al-Nour-Moschee aufeinander los.

Die Polizei mußte Wasserwerfer einsetzen, um Herr der Lage zu werden. „Das war schon so ’n richtiger Krieg hier, nicht nur irgend so ’ne Klopperei“, erzählt ein Verkäufer von seinen Beobachtungen. „Wir alle wollen hier friedlich leben, dann muß man diesen Hitzköppen aber auch mal deutlich machen, daß für sie hier Feierabend ist in Deutschland, wenn sie sich so aufführen“, fügt er an.

Er formt seine Hände zu einer imaginären Waffe

Der kurdische Besitzer eines in der Nähe der Moschee gelegenen Dönerladens sieht das erwartungsgemäß etwas anders. „Scheiß Türkei, scheiß Westen! Erdogan macht gemeinsame Sache mit dem Islamischen Staat, das weiß doch jeder. Wollt ihr warten, bis ihr auch abgeschlachtet werdet oder was?“ regt sich der kleine Mann mit dem großen Schnauzbart auf.

In einer Ecke seines Imbisses sitzt ein alter Mann mit Stoppelbart und grauen Haaren. Sein Deutsch ist sehr schlecht, er ist kaum zu verstehen. Aber seine wegwerfenden Handbewegungen zu den Worten „Salafist“ und „IS“ sagen alles. Zuletzt formt er aus seinen Händen und Armen eine imaginäre Waffe, während er dabei die Laute wie von Maschinengewehrsalven imitiert. Eine Mimik und Gestik, die auf absehbare Zeit keine Deeskalation erwarten lassen.

 

Eskalation

Massenschlägereien von mehreren hundert Personen, über zwanzig Verletzte, ein Großaufgebot der Polizei: Mit Sorge betrachten die Sicherheitsbehörden in Deutschland die Auseinandersetzungen verfeindeter Gruppen infolge des Bürgerkriegs in Syrien und im Nordirak.

„Die beteiligten Parteien sind durch äußere Anlässe hoch emotionalisiert und reagieren unberechenbar auf Provokationen des Gegners. In der Konfrontation zwischen den verschiedenen in Deutschland lebenden Minderheiten und Extremisten entstehen Wechselwirkungen: Beide Seiten schaukeln sich gegenseitig auf“, teilte das Bundesamt für Verfassungsschutz auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT mit. „Abhängig von der Entwicklung in Syrien und im Irak kann es zu weiteren Auseinandersetzungen kommen“, so eine Behördensprecherin.

Unter den rund 800.000 in Deutschland lebenden Kurden zählen etwa 13.000 zum harten Kern der seit 1993 verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Zu bestimmten Veranstaltungen kann die PKK jedoch ein Vielfaches an Teilnehmern mobilisieren. Gerade die aktuellen Kämpfe gegen die Islamisten in Syrien werden von der Partei propagandistisch genutzt, da sie dort (auch über ihren syrischen Zweig PYD) unmittelbar involviert ist.

Daß es ausgerechnet im eher beschaulichen niedersächsischen Celle zu solch massiven Auseinandersetzungen kam, ist nicht überraschend: Die Stadt gilt als weltweit zweitgrößter Wohnort von Jesiden – hinter dem nordirakischen Shingal. Wie viele Jesiden genau in Deutschland leben, ist unklar, die Zahl schwankt zwischen etwa 40.000 und 60.000. Jesiden sind ethnische Kurden; ihre Religion ist monotheistisch. Als eine Art Stellvertreter Gottes verehren sie den obersten Engel Taus-i Melek und sie glauben an eine Seelenwanderung. Die ersten Jesiden kamen als (türkische) Gastarbeiter nach Deutschland, später wurde ihnen aufgrund der Unterdrückung in ihrer Heimat der Status als Gruppenverfolgte zuerkannt.

Die Zahl der Islamisten in Deutschland bezifferte der Verfassungsschutzbericht (2013) auf 43.190, davon sind etwa 5.500 Salafisten.

Fotos: Aufgeheizt: Kurdische Demonstranten vergangene Woche in Hamburg mit einer Fahne des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan; Machtprobe: Rund 400 Jesiden stehen in der Nacht zum Mittwoch vergangener Woche in Celle hinter einer Polizeikette

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