© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/14 / 17. Oktober 2014

Der Umsturz vollzieht sich vor dem Rechner
Aufklärung oder Vernebelung? Zwei Bücher zum Für und Wider digitaler Kommunikation
Andreas Zöllner

Mit dem Schlagwort der digitalen Demenz hat der Hirnforscher Manfred Spitzer (Ulm) eine durch die umfassende Digitalisierung bewirkte Degeneration geistiger Fähigkeiten gekennzeichnet (JF 41/12). Der unlängst verstorbene Frank Schirrmacher war zuletzt fast schon besessen von den Ausgeburten des digitalen Kapitalismus. „Wehrt Euch!“ hat Hans Magnus Enzensberger im Februar in der FAZ gerufen. Er schränkte seine Mahnung zugleich ein auf „Leute, die keine Nerds, Hacker oder Kryptographen sind und die Besseres zu tun haben, als sich stündlich mit den Fallgruben der Digitalisierung zu befassen“.

Wenn das alles Teufelszeug ist, dann ist es zugleich auch so alt wie der Teufel selbst. Was ebenso für die Gegenmittel gilt. Peter Handke war schon der Meinung, daß zwei Sekunden frische Luft an den Schläfen einige Stunden Fernsehen heilen können. Inzwischen wird der Teufel an jede Wand gemalt, während vom Ausweg kaum noch die Rede ist.

Die Pioniere bleiben mit ihrer Eifersucht zurück

In ihrem Buch „Digitale Aufklärung“ sprechen Ossi Urchs und Tim Cole ihrer Sache die Unanfechtbarkeit einer Naturgewalt zu. Im Klappentext werden sie als „Internet-Guru der ersten Stunde“ und „Meinungsführer der digitalen Wirtschaft“ vorgestellt. Die Apostel im Geschwindigkeitsrausch der Hochleistungsprozessoren preisen selbstverständlich die Wucht der Welle, durch die sie selbst über den Wahrnehmungshorizont getragen wurden. Der Internetrausch wurde kurzfristig zu einer aufregenden Mode. Deren Rückstände werden bald normal und gleichgültig eingebunden sein, ohne unser Leben grundsätzlich umgekrempelt zu haben. Die Pioniere der Neuerungen bleiben am Ende immer mit ihrer Eifersucht allein zurück. Was Allgemeingut wird, nimmt ihnen damit zugleich den Vorsprung. Bleibt es dagegen ihr eigenes Element, dann mangelt ihm die gesellschaftliche Geltung. Sie verlangen von den Lesern, ihr Bewußtsein zu ändern. Allen Ernstes behaupten sie eine Möglichkeit, die Überwacher zu überwachen.

Roman Maria Koidl dagegen hat eine Art Erste-Hilfe-Buch verfaßt. In „Web Attack“ präsentiert der ehemalige Internetberater des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück den „Staat als Stalker“. Wer erinnert sich zum Beispiel noch, wie bereits 2006 die Steuererklärung ausschließlich in digitaler Form eingereicht werden sollte. Zunächst gelang es, diese Zumutung abzuschmettern. Immer noch können die Formblätter in den Finanzämtern abgeholt werden. Doch im Jahr darauf wurde dann eine Steueridentitätsnummer ausgegeben, von der es heißt, sie gälte lebenslang. Das ist offenbar noch länger als „lebenslänglich“. (Die Mindestverbüßungszeit einer lebenslangen Freiheitsstrafe beläuft sich auf nicht mehr als fünfzehn Jahre.) Inzwischen ist diese Nummernfolge vom Briefkopf des Formulars klammheimlich in die Namensspalte gewandert und hat sich damit als Personenkennzahl offenbart.

Erschreckend an der Debatte über Nutzen und Nachteil der Digitalisierung für das Menschengeschlecht ist vor allem der Kleinmut oder – schlimmer noch – der Gleichmut, mit dem der Absicht eines grundstürzenden Umwerfens der menschlichen Selbstwahrnehmung begegnet wird. Darüber bleibt es fast unbedeutend, ob dieser Umschwung im guten oder im bösen Sinne verkündet wird. Der eigentliche Umsturz geht nicht von den Systemen aus, sondern er vollzieht sich vor dem Rechner. Der Abschaffung der Eigenständigkeit geht immer die Selbstpreisgabe voraus. Die Radikalität dieses Entschlusses wird von technischen Kontruktionen und Erfindungen nicht erreicht.

„Web Attack“ enthält mehr Unterhaltung als eine grundlegende Deutung der Lage. Etwas hochnäsig rät Koidl dem mit seinen Paßworten leichtsinnig umgehenden Leser: „... suchen Sie einen Arzt auf. Danach empfehle ich Ihnen die Installation eines Programms.“ Die Besorgtheit von Koidl teilt mit der Begeisterung von Urchs und Cole die Überschätzung der digitalen Medien. Neuerdings ist immer öfter die Rede vom Identitätsdiebstahl. Vorausgesetzt wird eine digitale Identität. Nur dessen, was dort anzutreffen ist, können sich feindliche Kräfte bemächtigen. Hoffen wir dagegen lieber, daß ein gesunder Menschenverstand uns davor bewahrt, das gesamte Dasein ins Digitale zu verlagern.

Von den Netzen nicht völlig überspinnen lassen

Als 1906 der Atomphysiker Pierre Curie bei einem Verkehrsunfall mit einer Motordroschke am dabei erlittenen Schädelbruch starb, bejubelte Léon Bloy in seinem Tagebuch „die Zermalmung des infamen Gehirns“. So abstoßend sich dieser archaische Haß auch darstellt, bemerkenswert bleibt eine typisierende Kraft. Und womit wird dieser Fluch austariert: Vierzig Jahre später detonierte die erste Atombombe über einer Großstadt.

Der Totalität der pragmatischen Naturwissenschaft begegnet hier ein geistiger Mensch mit ebenso totaler Zurückweisung. Wer vermag sich dazu noch aufzuschwingen? Statt zu fluchen und zu preisen wird angepriesen und bejammert, von Befürchtern und Befürwortern des digitalen Putsches. Eine Lebenshilfe ist dem nicht zu entnehmen.

Es kommt wohl eher darauf an, das Leben einerseits so zu führen, daß seine Wirklichkeit weiterhin unberechenbar bleibt und sich andererseits von den vormundschaftlichen Netzen nicht völlig überspinnen zu lassen. Aber dafür sind weder Koidl noch Urchs und Cole nur ansatzweise hilfreich. Sie sind vielmehr Teil des Problems.

Roman Maria Koidl: Web Attack. Der Staat als Stalker. Goldmann, München 2013, broschiert, 144 Seiten, 8,99 Euro

Ossi Urchs / Tim Cole: Digitale Aufklärung. Warum uns das Internet klüger macht. Hanser Verlag, München 2013, gebunden, 280 Seiten, 18,90 Euro

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