© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/14 / 17. Oktober 2014

Wir sind Nobelpreisträger
Wenn Sackgassen zu Durchgangsstraßen werden: Stefan Hell umgeht ein Grundgesetz der Optik mit Chemie
Heiko Urbanzyk

Wir sind Nobelpreisträger 2014! Klingt komisch? Warum aber sollte unsere Freude über den Chemienobelpreis für Stefan Hell geringer ausfallen als die über den Fußballweltmeistertitel? Zugegeben, die bahnbrechende Entdeckung des Heidelberger bzw. Göttinger Forschers zur Mikroskopie ist nicht dazu geeignet, unter dem Klang der Nationalhymne Millionen zu begeistern. Allerdings umging Stefan Hell ein seit 1873 als unwiderleglich geltendes Naturgesetz – und so etwas geschieht eben nicht alle vier Jahre.

Auflösungslimit für optische Mikroskope umgangen

Hells Forschungsergebnisse ermöglichen einen genauen Blick in lebende menschliche Zellen, den Wissenschaftler nie für möglich hielten. Damit können molekulare Vorgänge künftig in Echtzeit beobachtet werden, wie zum Beispiel die Ablagerung von Eiweiß bei der Entstehung von Alzheimer. Möglich ist dies durch eine hochgradig auflösende Fluoreszenzmikroskopie, die Hell am Max-Planck-Institut (MPI) in Göttingen entdeckte. Er stimulierte in seinem Mikroskop winzige Untersuchungsobjekte mit Hilfe von Laserstrahlen, bis sie von selbst leuchteten. Lars Fischer erklärt das in Spektrum der Wissenschaft ganz einfach: „Bestimmte Moleküle lassen sich mit einem Laser anregen, ihre Elektronen steigen in einen energiereicheren Zustand auf. Anschließend fallen sie wieder zurück und geben ein Photon ab – sie leuchten.“ Hat der Forscher diese Moleküle im Blick, kann er ihre spezifische Funktion innerhalb der Zelle bestimmen. Probleme bei dieser Methode behebt Hells „Stimulated Emission Depletion (STED)“-Mikroskop. Er arbeitet damit „jenseits der physikalischen Grenzen des Lichtmikroskops“, wie es bei Spektrum heißt.

Hell überwand mit seiner Methode ein vom Physiker Ernst Karl Abbe im Jahr 1873 aufgestelltes Gesetz über die Beugungsgrenze von Licht. Es galt als unwiderleglich, daß Strukturen unterhalb von 200 Nanometern Durchmesser vom Licht nicht derart aufgelöst werden können, daß sie unter dem Lichtmikroskop erkennbar werden. „Zwar ist das Beugungslimit für das Elektronenmikroskop kein Problem, und andere Techniken wie die Röntgenbeugung zeigen sogar einzelne Atome“, beschreibt Fischer. Doch diese Verfahren funktionierten nur im Hochvakuum und mit energiereichen Strahlen, „die jedes Leben zuverlässig töten“. Das Lichtmikroskop dagegen zeige das Leben in voller Blüte. Nur eben nicht in hoher Auflösung. Für Biologen ein Problem – bis jetzt.

Stefan Hells Arbeiten beweisen eindrucksvoll, daß jede Wissenschaft, selbst eine exakte wie die Physik, vom ständigen Revisionismus ihrer eigenen Ergebnisse lebt. Ein Endpunkt der Forschung ist nicht in Sicht; jede Sackgasse kann zur Durchgangsstraße werden. Das STED-Mikroskop hebt Abbes Theorie nämlich nicht auf, sondern umgeht sie einfach. Hell zeigt zudem trotz aller Abgesänge, daß Forschung von Weltrang immer noch von deutschen Akademikern in deutschen Einrichtungen geleistet werden kann.

Der 51jährige Vater von drei kleinen Kindern ist Banater Schwabe, also ein in Rumänien geborener Deutscher. 1978, im Alter von 16 Jahren, siedelte er mit seiner Familie nach Deutschland über, wo er sein Abitur machte. Es folgten Studium und Pomotion in Heidelberg und ein Wissenschaftlerleben, das Hartnäckigkeit erforderte. In Deutschland wollte sich für seine Idee, nicht den physikalischen Voraussetzungen der Lichtmikroskopie zu folgen, sondern der Chemie, kein Professor verwenden. Erst an der Universität im finnischen Turku konnte Hell während vier Jahren die Grundlagen für die neue Mikroskopie-Technik entwickeln, die jetzt mit dem Chemie­nobelpreis gekrönt wurde.

Den Beginn seiner Erfolgsgeschichte sieht er jedoch nicht im deutschen Bildungsbetrieb. Gegenüber rumänischen Medien erklärt er nach dem Bekanntwerden der Preisverleihung, daß er seine Karriere dem rumänischen Schulsystem verdanke. Am Temeswarer Nikolaus-Lenau-Lyzeum begann seine Leidenschaft für die Physik.

Lob für rumänisches Bildungssystem

„Die Bildung, die ich in Rumänien empfing, half mir sehr nach unserem Umzug nach Deutschland und machte das Leben dort einfacher für mich“, lobt Hell, der fließend Rumänisch spricht, das damals noch sozialistische Bildungssystem seiner Heimat. Der fühlt er sich persönlich wie beruflich immer noch verbunden: Er ist Ehrenmitglied der Rumänischen Akademie und Ehrendoktor der Temeswarer Westuniversität und des Bukarester Polytechnikums.

Der Nobelpreis Hells wäre nicht ohne die deutschen Forschungseinrichtungen möglich gewesen, an denen er tätig ist. Er ist Direktor am Max-Planck-Institut (MPI) für biophysikalische Chemie in Göttingen. Aus den 82 Instituten der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) gingen 18 Nobelpreisträger seit der Gründung 1948 hervor. Das Erfolgsrezept sieht die Gesellschaft darin begründet, daß die Institute um Spitzenforscher herum entstehen, nicht umgekehrt. Es herrscht das Persönlichkeitsprinzip, das auf Adolf von Harnack, den ersten Präsidenten der damaligen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zurückgeht. Die Wissenschaftler wählen ihre Themen und ihre Mitarbeiter selbst aus. Beste Arbeitsbedingungen werden garantiert. Mit 5.200 Wissenschaftlern, 10.000 Doktoranden, 15.000 Publikationen in Fachzeitschriften weltweit und einem Jahresbudget von 1,7 Milliarden Euro sichert die MPG, daß Deutschland seinen Ruf als Forschungsnation verteidigen kann. Hell sucht außerdem am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg nach Wegen, seine Technik in der Krebsforschung einzusetzen.

Gemeinsam mit Stefan Hell erhalten die beiden US-Forscher Eric Betzig und William Moerner den mit 880.000 Euro dotierten Preis. Die Amerikaner forschten unabhängig von Hell erfolgreich auf demselben Gebiet.

Die Fußballnation Deutschland wird für mindestens vier Jahre vor jedem Spiel von ihrem Ruhm in Brasilien zehren. Die Forschungsnation Deutschland und Patienten auf der ganzen Welt werden von Stefan Hells Erkenntnissen auf unabsehbare Zeit profitieren – und sei es nur bis zur nächsten Revision. Vielleicht in 140 Jahren?

Foto: Stefan Hell und seine Entdeckung: Die STED-Mikroskopie (innener Kreis) liefert zirka zehnmal schärfere Details von Filamentstrukturen einer Nervenzelle als ein herkömmliches Mikroskop (Hintergrund).

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen