© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/14 / 24. Oktober 2014

Auf Kurs bringen
Bundeswehr: Nach Jahren der Auslandseinsätze rückt die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung wieder stärker in den Fokus
Hans Brandlberger

Mit der Auflösung des Warschauer Pakts und dem Zerfall der Sowjetunion trat der ursprüngliche Auftrag der Bundeswehr, die Landes- und Bündnisverteidigung, schlagartig in den Hintergrund. Deutschland schien plötzlich nur noch von Verbündeten und Partnern umgeben. Eine militärische Bedrohung war nicht mehr auszumachen. Beschäftigungslos wurde die Bundeswehr aber nicht.

Die Kriege, in deren Pulverschwaden und Blutbädern Jugoslawien zerfiel, traumatisierten Europa und zerstörten die kurzlebigen Hoffnungen, mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes wäre ein friedliches Posthistoire angebrochen. Die Aufgabe, die sich nun den bereits abgeschmolzenen europäischen Streitkräften stellte, war aber gänzlich neu. Nicht mehr große Operationen zu Lande, zu Wasser oder in der Luft galt es zu führen, sondern mit kleinen Kontingenten in multinational zusammengewürfelten Missionen Kampfhandlungen Dritter zu unterbinden und politisch diktierte Friedenslösungen militärisch abzusichern, das Ganze angereichert mit einer Prise humanitärer Hilfe.

„Einsatz“ heißt seither die Teilnahme an einer der zahllosen Missionen, an denen sich die Bundeswehr in den vergangenen 20 Jahren auf drei Kontinenten beteiligt hat. 10.000 Männer und Frauen ihrer 175.000 bis 185.000 Uniformträger soll sie, so die politische Vorgabe, für derartige Zwecke abstellen können. Hinzu kommen Kräfte, die für die Eingreiftruppen von Nato und EU vorzusehen sind, beide mußten allerdings noch nie in Aktion treten. Aktuell ist die Bundeswehr mit knapp 3.500 Soldaten an 17 Missionen beteiligt.

Fast alle Einsätze waren nicht rein militärisch

Nahezu ausschließlich waren und sind diese Einsätze nicht genuin militärischer Natur. Sie hätten, wenn denn solche Ressourcen zur Verfügung stünden, auch von Polizeikräften wahrgenommen werden können. Als Ausnahmen mögen lediglich die Operationen der Luftwaffe auf dem Balkan in den neunziger Jahren und der Isaf-Einsatz durchgehen. In Afghanistan war die Bedrohung stets hoch, das Mandat „robust“, und es kam zu Kampfhandlungen und Anschlägen, bei denen deutsche Soldaten erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg gefallen sind.

Als Bekenntnisformel geisterten Landes- und Bündnisverteidigung auch nach dem Ende des Kalten Krieges bis auf den heutigen Tag durch alle sicherheits- und verteidigungspolitischen Grundsatzdokumente von Nato und Bundeswehr. Eine Lage, die diesen Kernauftrag akut werden ließe, wurde im Zeitablauf aber als immer unwahrscheinlicher beurteilt, auch wenn man sie nie ganz ausschließen wollte. Es erschien daher politisch als vertretbar, die Streitkräfteplanung nicht mehr länger auf ein nunmehr als unrealistisch geltendes Szenario auszurichten, sondern die immer knapper gewordenen personellen und materiellen Ressourcen ganz auf die Einsätze zu steuern, in denen man sich aktuell unter der Gefährdung von Leib und Leben der Soldaten zu bewähren hatte.

Klassische Waffengattungen nur noch symbolisch

Da diese Einsätze allesamt nicht darauf ausgelegt waren, einen Gegner militärisch auszuschalten, um politische Ziele durchzusetzen, sondern der Verlegenheitsstrategie folgten, so lange auszuhalten, bis die Regierung das erfolgreiche Ende der Mission ausrufen würde, war der Schutz der eigenen Kräfte im weitesten Sinne das Paradigma für Ausrüstung, Ausbildung und Einsatzregeln. Dabei war keineswegs eine „Afghanistan-Connection“ im Sinne eines persönlichen Netzwerkes am Werk, wie reißerische Medienberichte in den vergangenen Wochen suggerierten. Man folgte lediglich der Einsicht, daß jener Einsatz, der die höchsten Risiken mit sich brachte, auch die höchste Priorität in den Planungen verdiente.

Die zwielichtige Rolle, die Rußland bei der Eskalation der Ukraine-Krise spielt, hat nun jedoch ein abruptes Umdenken ausgelöst. Schien es eine Weile so, als würde das Ende des Isaf-Einsatzes eine neuerliche Sinnkrise der Nato mit sich bringen, so hat das Bündnis Anfang September auf dem Gipfel von Wales keine Selbstzweifel mehr erkennen lassen. „Zurück zu den Wurzeln“ lautet die Botschaft der Abschlußdeklaration, Moskau soll erkennen, daß die Nato die kollektive Beistandsverpflichtung ernst nimmt und nichts unversucht lassen wird, um seine Fähigkeiten zur Bündnisverteidigung zu stärken. Die östlichen Mitglieder der Allianz, deren Erinnerung an die sowjetische Knute noch frisch ist, pochen ungeachtet der Frage, ob die Bedrohung tatsächlich so gewichtig ist, auf eine glaubwürdige Abschreckung an der Nahtstelle zum russischen Einflußbereich, und diese erfordert eine Anpassung von Doktrinen, Streitkräftedislozierung, Übungspraxis und nicht zuletzt Verteidigungsbudgets.

Mit ein paar Wochen Verspätung – man mag gehofft haben, es bei Worten belassen zu können – ist diese Diskussion auch in Berlin angekommen. Mitten in einer Phase, in der die Bundeswehr mit sich selbst beschäftigt ist und ihre Prozesse in Ordnung zu bringen versucht, preschen nun Verteidigungs- und Außenpolitiker der Regierungsfraktionen vor und fordern hier eine Aufstockung des Bestandes an gepanzerten Fahrzeugen, dort die Entwicklung eines neuen Kampfpanzers Leopard 3, und unisono die Aufstockung des Verteidigungsbudgets möglichst ab 2016, ohne die derartige Pläne in der Tat auf dem Papier bleiben müßten.

All diesen Vorstößen liegt die zutreffende Einsicht zugrunde, daß die Bundeswehr von heute keinen signifikanten Beitrag zur Bündnisverteidigung mehr leisten könnte. Das Heer, das in jedem Konflikt die Hauptlast zu tragen hat, in dem es Territorium zu halten oder zu nehmen gilt, ist heute auf leichte, schnell verlegbare Kräfte optimiert, die nur noch punktuell, aber nicht mehr in der Fläche Überlegenheit herstellen können.

Klassische Waffengattungen mit schwerem Gerät, die bei großen Land-operationen eine zentrale Rolle spielen würden, sind, wie insbesondere die Panzer- und die Artillerietruppe, auf eine kaum mehr als symbolische Größe abgeschmolzen, mit der sich nur noch Lehrvorführungen bestreiten lassen. Besonders anschaulich wird dies bei der Zahl der Kampfpanzer. Die Zielstruktur sieht hier nur 225 Exemplare vor, mit denen sich wahrscheinlich nicht einmal das Saarland verteidigen ließe. Der Bestand der Bundeswehr am Ende des Kalten Krieges war etwa zwanzigmal so groß.

Ein Truppenumfang wie früher ist illusorisch

Ein Punkt, an dem keine Umkehr mehr möglich wäre, ist dennoch nicht erreicht. Heer, Luftwaffe und Marine haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten Waffensysteme beschafft oder beauftragt, die auf höchstem technologischem Stand sind und überwiegend auch in Szenarien der Bündnisverteidigung Wirkung zeigen könnten, sofern sie in ausreichender Stückzahl zur Verfügung stünden. Zu nennen sind hier der Schützenpanzer Puma, der kampfwertgesteigerte Leopard 2A7, der gepanzerte Truppentransporter Boxer, die Panzerhaubitze 2000, die geschützten Fahrzeuge Eagle IV und V sowie Dingo 2, der Kampfhubschrauber Tiger, das System „Infanterist der Zukunft“, der Eurofighter sowie die U-Boote 212A. Neue Fähigkeiten auf den Gebieten Aufklärung, hier insbesondere mit unbemannten Systemen, und Vernetzte Operationsführung erlauben einen effektiveren Kräfteeinsatz.

Aus den Erfahrungen des Afghanistan-Einsatzes hat das Heer den richtigen Schluß gezogen, die Befähigung zum infanteristischen Kampf in den Mittelpunkt von Ausbildung, Bewaffnung und Struktur zu stellen. Hier ist man weiter als in der Schlußphase des Kalten Krieges, in der sich Soldaten als Statisten auf der Bühne der Abschreckung und nicht als potentielle Kämpfer verstanden. Vielleicht zahlt sich sogar der viel belächelte Ansatz „Breite geht vor Tiefe“ aus, den die Bundeswehr in den vergangenen Jahren verfolgt hat. Er sah vor, auch Fähigkeiten, die man in den als realistisch angesehenen Einsatzszenarien kaum benötigen würde, dennoch, und sei es in noch so geringem Umfang, zu bewahren. Hier müßte somit nicht bei Null angefangen werden.

Wenn die Bundeswehr wieder einen stärkeren Fokus auf die Bündnisverteidigung legen sollte, werden die Handlungsspielräume daher weniger durch sie selbst eingeengt, sondern durch die beschränkten Ressourcen, die man ihr zubilligt, zumal die Erwartung, Kräfte für internationale Missionen jenseits dieses Auftrages bereitzustellen, unverändert bleiben wird. Dies betrifft in erster Linie den Etat. Man muß gar nicht so weit gehen und die Forderung aufstellen, Deutschland solle statt der derzeitigen 1,3 Prozent satte zwei Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung aufwenden. Für diese in der Nato spukende Zahl gibt es keine plausible Begründung.

Unabweisbar ist aber, daß die Bundeswehr für neue Aufgaben auch mehr Geld benötigen würde. Mit diesen zusätzlichen Mitteln müßte sie die auf Kante genähte Stückzahl der für die Bündnisverteidigung erforderlichen Systeme erhöhen, neue Entwicklungsvorhaben anstoßen und die Ersatzteilversorgung mit Blick auf einen höheren Bereitschaftsstand verbessern. Dabei sollte sie zugleich vor den Zumutungen des Bundesrechnungshofes geschützt werden, der sich in den vergangenen Jahren zunehmend zum Richter über die Wirtschaftlichkeit in der Truppe aufgeschwungen hat.

Darüber hinaus müßte der Blick auch auf Strukturen, Personalumfänge und Wehrform gerichtet werden. Die Bundeswehr von heute ist durch eine verwirrende Vielzahl von aufgeblähten Ämtern und Kommandobehörden gekennzeichnet, die den Eindruck erwecken, es gelte eine Millionen Köpfe zählende Armee zu führen. Die tatsächlich militärisch einsatzbaren Verbände, die den Arbeitsmuskel dieser gigantischen Bürokratie darstellen, nehmen sich dagegen als spärlich aus. Auch bei dem derzeit anvisierten Streitkräfteumfang ließe sich daher mehr Schlagkraft erreichen, wenn die lange beschworene Verschlankung der Strukturen Wirklichkeit würde.

Von einer Aufwuchsfähigkeit wie zu Zeiten des Kalten Krieges wäre man aber auch damit noch immer weit entfernt. Da die Wehrpflicht ausgesetzt wurde, der Personalumfang abgeschmolzen ist und die Rotation unter Soldaten auf Zeit langsamer vonstatten geht, schwindet das Reservoir von ausgebildeten Reservisten, auf die man in einem Spannungsfall zurückgreifen könnte. Es ist aber unwahrscheinlich, daß das „Umdenken“ so weit geht, auch die Wehrform zu überdenken.

Ob die neue Wertschätzung für die Bündnisverteidigung bloß ein Strohfeuer bleibt oder tatsächlich zu einer neuen Ausrichtung von Bundeswehr und Nato führt, wird sich auch aus der Politik Moskaus in den nächsten Monaten ergeben.

 

Militärausgaben

Investitionen ins Militär in Prozent des Bruttoinlandsproduktes (Deutschland im Vergleich zu zehn Nato-Staaten mit höherem Anteil)

Legt man die absoluten Zahlen zugrunde, steht Deutschland laut Untersuchungen des Stockholm International Peace Research Institute mit 48,8 Milliarden Dollar an Ausgaben für das Militär (2013) an siebter Stelle aller Staaten weltweit. Führend sind hier die USA (640 Milliarden Dollar), China (geschätzt 188 Milliarden), Rußland (geschätzt 87,8 Milliarden) und Saudi-Arabien (67 Milliarden).

(Grafiken siehe PDF)

Foto: Deutsche Transall mit Täuschkörpern gegen Raketen: In den Pulverschwaden zerfiel die Hoffnung auf ein friedliches Ende der Geschichte

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