© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/14 / 24. Oktober 2014

Zeitschriftenkritik: La Nouvelle Revue d’Histoire
Maskierte Verbrechen im Bürgerkrieg
Karlheinz Weissmann

Nach dem Freitod Dominique Venners im vergangenen Jahr mußte man befürchten, daß auch die von ihm herausgegebene Zeitschrift La Nouvelle Revue d’Histoire (NRH) Schaden nehmen könnte. Tatsächlich kann in der neuen Mannschaft niemand eine so prägende Figur wie Venner ersetzen, aber an der grundsätzlichen Ausrichtung und Qualität dieser französischen Geschichtszeitschrift „von rechts“ hat sich nichts geändert.

Das ist besonders deutlich an der aktuellen Ausgabe unter dem Titel „Libération et Epuration“ (Befreiung und Säuberung) zu sehen. Hier werden zwar auch Aspekte behandelt, die ins offiziell gewünschte Bild passen, aber in erster Linie geht es doch um das, was normalerweise lieber verschwiegen wird. Dazu gehören vor allem die bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Gruppen des Maquis und die Folgen der „wilden Säuberungen“. Jean Kappel weist in seinem Beitrag darauf hin, daß es zwischen dem November 1944 und dem Jahresanfang 1947 etwa eine Million Verhaftungen gegeben habe und ungefähr dreißig- bis vierzigtausend Menschen den Maßnahmen zum Opfer fielen. In den meisten Fällen handelte es sich um „maskierte Verbrechen“, wie schon ein zeitgenössischer Beobachter feststellte, das heißt persönliche Abrechnungen beziehungsweise den Versuch, persönliche, finanzielle oder politische Konflikte auf diesem Weg zu erledigen. Daß sich die Gewaltakte auch gegen Frauen richteten, etwa diejenigen, die der „erotischen Kollaboration“ mit dem Feind beschuldigt wurden, ist allgemein bekannt, führt aber auch zu der Einschätzung, daß dieser innerfranzösische Bürgerkrieg von mehr als Rachedurst angetrieben war; bei kollektiven Tötungen oder Demütigungen ging es vielfach darum, das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen und die eigene Vergangenheit als „kleiner Pétainist“ durch besondere Rabiatheit vergessen zu machen.

Dem Schicksal der großen Pétainisten, der Kirchen- und der Armeeführer, die sich dem Staat von Vichy zur Verfügung stellten, sind zwei weitere Beiträge der NRH gewidmet. Daß Offiziere, die nach der Niederlage von 1940 ihre Loyalität gegenüber Pétain erklärten, formell korrekt handelten, spielte im Augenblick von de Gaulles Triumph selbstverständlich keine Rolle. Allerdings wußte man auf der Siegerseite auch sehr gut, daß diese Bereitschaft nichts mit Deutschfreundlichkeit oder ideologischer Affinität zum Nationalsozialismus zu tun hatte. Außerdem spielten Sachzwänge eine Rolle, die es nicht erlaubten, die Streitkräfte im Krieg vollständig zu „enthaupten“. Also standen in der neuen Armee schließlich Reguläre, „Freie Franzosen“ und Maquisards nebeneinander. Nach dem Krieg erließ die Republik mehrere Amnestien, die die Situation weitgehend beruhigten.

Frankreich wird sich sicher auch in Zukunft mit dem Thema „1944“ intensiv auseinandersetzen. Wer einen gewissen Einblick in die Struktur der Debatte gewinnen möchte, findet in der Nouvelle Revue d’Histoire mehr als einen ersten Anhalt.

Kontakt: La Nouvelle Revue d’Histoire, 88, Avenue des Ternes, 75017 Paris. Das Einzelheft kostet 6,90 Euro. www.la-nrh.fr

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