© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/14 / 31. Oktober 2014

„Wir haben keine Angst“
Besuch in Tschernobyl: Überall piepst der Geigerzähler, doch Mensch und Tieren geht es gut
Billx Six

Auch 28 Jahre nach der Explosion von Reaktor 4 des sowjetischen Atomkraftwerks „Lenin“ bei Tschernobyl wird die deutsche Öffentlichkeit von Schreckensmeldungen erschüttert: Der Bau einer neuen Jahrhundert-Schutzhülle droht nach zweieinhalb Jahren ins Stocken zu geraten. Dem von der G7 aufgelegten Hilfsfonds fehlen 615 Millionen Euro. Zu sehen ist der erste Teil der auf Schienen montierten beweglichen Metall-Halle von 109 Metern Höhe bereits jetzt. Ihre Fläche: fast dreimal so groß wie der Petersdom. 2015 sollte die Versiegelung abgeschlossen sein – doch jetzt ist der Zeitplan in Gefahr. Die Bundesregierung drängt auf eine Lösung und stellt neben den jährlichen 7,7 Millionen Euro eine zusätzliche finanzielle Beteiligung Deutschlands in Aussicht – von der Oder-Neiße-Grenze ist der Unglücksreaktor in der heutigen Ukraine nur etwa 1.060 Kilometer entfernt. Die Deutsche Welle nennt den alten Beton-Sarkophag aus dem Jahr 1986 in einem aktuellen Bericht „eine tickende Zeitbombe“.

Für 140 Euro kann die Sperrzone besucht werden

Kaum verständlich dürfte es vielen der sorgenerfüllten Deutschen daher sein, daß die 30-Kilometer-Sperrzone seit 2011 für Touristen zugänglich ist. Unter Aufsicht, für 140 Euro pro Tag. Die Strahlenbelastung, so die Veranstalter, sei mit der Röntgenprozedur im Krankenhaus oder bei einem Transatlantikflug vergleichbar. Ein Besuch vor Ort wird offenbaren: Vom „Atomtod“ kann keine Rede mehr sein. Vielmehr hat sich Alan Weismans „Die Welt ohne uns“ bewahrheitet – die Natur hat sich ihren Weg gebahnt: Neben Unmengen an Rotwild und Wildschweinen auch Wölfe, Elche, Wildpferde, Luchse und Biber – sie alle streifen durch die Wälder, Wiesen und Moore des umzäunten Areals.

Tschernobyl liegt 18 Kilometer vom Todesreaktor entfernt. 3.000 bis 4.000 Arbeiter leben in den geräumten Wohnblocks – 15 Tage am Stück dürfen sie für Wartungs- und Sicherungsdienste hier sein. Sie sind die letzten, die nach der Abschaltung des AKW im Jahr 2000 noch geblieben sind. Die Straßen sind gepflegt, in der großen orthodoxen Kirche gibt es jeden Sonntag eine Messe. Doch zwischen 100 und 200 Menschen wohnen permanent in der Sperrzone – alte Leute, die ihre Heimat nicht verlassen wollen und von den Autoritäten geduldet werden.

Fünf Kilometer jenseits von Tschernobyl: das Dörfchen Parischev. „Strahlung?“ fragt der 77jährige Iwan Iwanitsch ungläubig. „Wir sind durch den Krieg gegangen – da haben wir doch keine Angst vor etwas, was wir nicht sehen, fühlen oder schmecken können.“ Seine Frau Maria (76) mit traditionellem Kopftuch, steht auf Abstand, während ihr Mann am Gartentisch selbstgemachten Wodka ausschenkt. 1988, zwei Jahre nach der Evakuierung, kamen beide zurück nach Parischev. „Hier sind wir geboren, hier wollen wir auch sterben“, so Iwan. Im Garten bauen sie Kartoffeln, Tomaten und Gurken an. Im Stall quiekt ein Schwein. Wasser wird aus einem Brunnen geschöpft. Weite Teile der einstigen 3.000-Seelen-Gemeinde sind mit Gras überwuchert, die leeren Holzdatschen vermodern. Nur noch zwei weitere Großmütter leben in der romantischen Einöde.

Auch das Leben von Sergej, dem 23jährigen Fremdenführer, ist mit dem Reaktorunglück vom 26. April 1986 verbunden, seit die Eltern 1995 ihr Heimatdorf fünf Kilometer jenseits der Sperrgrenze verlassen mußten.

Mit einem Mercedes-Kastenwagen bestreitet Sergej seinen Lebensunterhalt. Die Reiseanbieter übernehmen den anstrengenden Papierkram – heißt, sie beschaffen die Genehmigungen, die an Straßenposten kontrolliert werden. „Einmal haben die Kontrollmaschinen am Ausgang gepiept“, berichtet der junge Mann. Ein Zeichen für hochradioaktive Teilchen am Körper! „Die Wachleute halfen, alles mit einem Handtuch abzurubbeln, dann war die Sache wieder in Ordnung“, so Sergej regungslos. Die Mitreisenden hätten allerdings sofort ihre Kleidung und sich selbst gewaschen. Das Leitungswasser, so heißt es, werde aus tiefen Schichten gepumpt – es schmeckt sogar besser als jenes in Kiew.

0,1 Mikrosievert pro Stunde gelten in Deutschland als Grenzmarke unbedenklicher Strahlenbelastung. Mit dem Geigerzähler messen wir 0,15 MS/h in Tschernobyl. Überraschend normal. Auf 200 Meter Distanz zum versiegelten Reaktor sind es bereits 3,9 MS/h. Vier Kilometer weiter, im Kindergarten von Kopatschi, dem letzten Gebäude der 1986 eingeebneten und vergrabenen Gemeinde von 1.114 Einwohnern, ist ein Wert von 0,34 MS/h zu messen. Allerdings nur innerhalb des modrigen Gemäuers, das mit alten Bildern und Puppen bestückt ist. Draußen, umgeben vom jungen Ahorn-Wald, liegt der Wert bei drei, direkt am Baum sind es gar 15,2 MS/h. Sergej erläutert: „Die Radionuklide sinken jedes Jahr einen Zentimeter tiefer in den Boden. Die Bäume nehmen sie jetzt über ihre Wurzeln wieder auf, und strahlen selbst erhöhte Werte ab.“ Deshalb gilt: Nichts anfassen!

Beeindruckender: eine tödliche Gefahrenquelle im verfallenen Krankenhaus von Prypjat, der größten Stadt in direkter Nachbarschaft zum Reaktor. Fast 50.000 Menschen wurden hier 1986 innerhalb von zweieinhalb Stunden evakuiert.

Auf einer verstaubten Empfangstheke liegt unscheinbar ein Objekt, das nach einem Fetzen Dämmung ausschaut. „Eines der ersten Strahlenopfer muß das in die Klinik gebracht haben“, vermutet Sergej. Das Meßgerät zeigt 156,1 MS/h in unmittelbarer Nähe. 20 Zentimeter weiter nur noch 1 MS/h.

Auch die Nato sorgt sich um die Sicherheit

Draußen sind die vor allem durch den Regen hochradioaktiven Flächen wie die Flecken eines Leopardenfells verteilt. Von den 190,3 Tonnen radioaktiven Materials im Reaktorkern wurden vom 26. April bis zum 5. Mai 1986 6,7 Tonnen durch die thermische Explosion und das Feuer freigesetzt. 100.000 Militärs und 400.000 zivile Helfer, „Liquidatoren“ genannt, kämpften unter Einsatz ihres Lebens darum, die Giftquellen zu versiegeln. Laut Recherchen des britischen Independent starben 41 Menschen unmittelbar und Zehntausende an den Folgen – doch eine unabhängige wissenschaftliche Erhebung gibt es bis heute nicht.

Hohe Halbwertzeiten wie bei radioaktivem Americium-241 (432 Jahre) oder Plutonium-241 (24.110 Jahre) bleiben in Tschernobyl gefürchtet. 99 Prozent des strahlenden Materials hat jedoch bereits zehn Halbwertzeiten durchlaufen, ist also nicht mehr nachweisbar, so etwa Iod-131 (acht Tage).

Sergej berichtet jedoch von der Sorge vor möglichen illegalen Grabungen in den 2.600 Quadratkilometern des ukrainischen Teils der Sperrzone – zum Bau einer „schmutzigen Bombe“. Sicherheitsexperten warnten immer wieder vor finsteren Interessen mafiöser Erpresser, weltentfremdeter Sekten oder Dschihadisten. Das ukrainische Militär reagierte: Seit Anfang des Jahres, so Sergej, patrouillierten Soldaten um das Sperrareal, dessen Zaun an vielen Stellen bereits löchrig sei.

Auch die Nato blickt mit Sorge auf die Instabilität im Atomstaat Ukraine, der nach wie vor die Hälfte seines Stroms über 15 Reaktoren an vier Standorten generiert. Bereits im April 2014, der Aufstand im Donbass hatte gerade begonnen, sandte das Militärbündnis medienwirksam „eine kleine Mannschaft ziviler Experten“ in die Ukraine, um in Fragen der Atomsicherheit zu beraten. Ein Nato-Sprecher erklärt gegenüber der JUNGEN FREIHEIT, daß die Mission in Kiew bereits nach „nur ein paar Tagen“ abgeschlossen gewesen sei. „Der Zweck der Nato-Zivilexperten-Mission war es, die Ukraine darin zu unterstützen, ihre zivile Notfall-Bereitschaft und Leitungspläne zu verbessern“, so der Offizielle. Der Empfehlungsbericht für die ukrainischen Behörden sei geheim.

Von den Untiefen globaler Sicherheitssorgen ist im herbstlichen Prypjat derweil nichts zu spüren. Die menschenleere Retortenstadt aus den 1970er Jahren hat das Schlimmste lange hinter sich. Meterhohe Bäume sprießen zwischen den robusten Plattenbauten in den Himmel. Es herrscht totale Stille. Im Chaos der neunziger Jahre sind Plünderer durch die Stadt gezogen. Nur noch zertrümmerte Möbel und Scheiben sind übriggeblieben. Immerhin: Lenin und die Koryphäen der KPdSU sind als abblätternde Bildnisse noch in Schulen und Kulturzentren zu bestaunen.

Beim Füttern der zwei Meter langen Welse im strahlenverseuchten Kühlbecken nahe dem Reaktor stellt sich die Frage: Mutationen? Tim Mousseau, Biologie-Professor von der University of South Carolina, befindet sich gerade zum wiederholten Male im Forschungseinsatz. „Godzilla-Phantasien“ erteilt der 56jährige im Gespräch eine Absage: „Die Lebewesen werden nicht größer, sie kriegen auch keine Superkräfte.“ Die Veränderungen, die er bei Vögeln untersuche, seien nur bei ganz genauem Hinschauen zu erkennen.

Selbst diese Einschätzung ist wissenschaftlich in die Defensive geraten: Der Genetiker Robert J. Baker von der Technischen Hochschule Texas forschte über Jahre an „Tausenden“ gefangenen Exemplaren von Mäusen aus dem sogenannten „Roten Wald“, jenem Baumbestand, der sich unter intensiver Bestrahlung vor dem Absterben verfärbt hatte. Sein Resümee: „Im Augenblick sieht es wohl danach aus, daß es den Tieren nicht nur gut geht, sondern daß ihr Genom tatsächlich unverändert ist.“ Ein ukrainischer Forscher wettet darauf mit dem Leben – und ernährt sich genüßlich von den Kirschen aus der Sperrzone. Aktueller Kenntnisstand: Die Strahlung ist im Kern gebunden, das Fruchtfleisch rein.

Foto: Die im Bau befindliche verschiebbare Halle soll künftig Reaktor 4 schützen (o.) / Iwan und seine Frau Maria im Dorf Parischev: Wir sind hier geboren, hier wollen wir auch sterben

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