© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/14 / 31. Oktober 2014

Auf den Hund gekommen
Die Verweltlichung des Lebens schreitet unaufhaltsam fort: Halloween verdrängt immer mehr Allerheiligen
Markus Brandstetter

Als ich ein Kind war, ist mein Großvater mit mir an Allerheiligen auf den Friedhof gegangen und hat das Grab seines Großvaters gesäubert und geschmückt. Ich habe dabeigestanden, Rechen und Schäufelchen in der Hand gehalten und mir einen abgefroren. Während die Dämmerung sich über uns senkte und wir die Grabumrandung von Moos und Unkraut befreiten, erzählte mein Großvater von seiner Kindheit, vom Ersten Weltkrieg und seinem Vater, der am Stammtisch „Parole Heimat“ rief, wenn ihn seine Frau nach Hause holte.

Wenn wir fertig waren und durch die Finsternis zum Parkplatz zurückgingen, blinkten hundertfach die roten Lichter von den Gräbern zu den Sternen hinauf, der ganze Friedhof schien in Flammen zu stehen, überall waren die Leute noch geschäftig dabei, die Gräber herzurichten, um der Toten zu gedenken.

Wenn ich heute diesen Friedhof besuche, dann sind die blinkenden Lichter spärlich geworden. Gewiß, es sind noch Leute da, die sich an den Gräbern zu schaffen machen, aber es sind wenige. Die grünen Gießkannen der Friedhofsverwaltung, die früher immer alle weg waren, wenn ich eine holen sollte, stehen nun zu zehnt auf dem Gestell, und die Abstände zwischen den flammenden Kerzen sind groß geworden. Auch in der Kirche, in der damals, wie mein Großvater gern sagte, „die ganzen alten Weiber sitzen und beten“, sitzt heute kaum mehr jemand, meist bin ich allein.

Der Grund dafür ist klar: In den vergangenen vierzig Jahren sind die Kirchen leer geworden, die Verweltlichung des Lebens schreitet unaufhaltsam fort, und an die Toten denkt keiner mehr gern. Je moderner eine Gesellschaft wird, desto mehr löst sie das Band, das die Toten mit uns verbindet.

In den USA, wo man auch auf diesem Gebiet Vorreiter ist, werden die üblichen englischen Ausdrücke für Friedhof wie „Cemetery“, „Churchyard“ oder „Grave-yard“ immer mehr durch den neutralen Ausdruck „Memorial Park“ ersetzt, was „Erinnerungspark“ bedeutet. Deshalb ist auch in Deutschland Allerseelen, an dem der Verstorbenen gedacht werden soll, schon lange kein Feiertag mehr, und immer weniger Menschen wollen sich an diesem Tag der „Armen Seelen im Fegefeuer“ erinnern.

Wer glaubt, daß dies ein rein gefühltes Nachlassen der Gläubigkeit ist, der irrt, denn auch die Statistiken belegen nüchtern und kühl, was jeder, wenn schon nicht weiß, so doch ahnt: 1950 sind fast zwölf Millionen Katholiken noch jeden Sonntag in die Kirche gegangen, 1970 waren es noch zehn, 1990 nur mehr sechs, 2002 fiel die Zahl auf vier Millionen, und im letzten Jahr waren es nur noch zweieinhalb.

Vergleichbare Zahlen für die evangelische Kirche gibt es nicht, es ist aber bekannt, daß dreieinhalb Prozent der evangelischen Christen regelmäßig in die Kirche gehen. Bei einer Gesamtzahl von knapp 24 Millionen Gläubigen entspricht dies 840.000 Gottesdienstbesuchern.

Dieser dramatische Rückgang der Gottesdienstbesuche und das Schwinden von Kirchenzugehörigkeit und Glaube bedeutet nun aber nicht, daß Allerheiligen und Allerseelen nicht mehr gefeiert würden – ganz im Gegenteil: so viele Leute wie nie zuvor sind am Vorabend von Allerheiligen auf den Beinen. Nur feiern sie nicht mehr Allerheiligen, noch gedenken sie ihrer Toten, nein, sie haben Unsinn, Schabernack und Klamauk im Sinn. Für sie ist der Tag vor Allerheiligen eine Art zweiter Karneval. Die Rede ist von Halloween, einem aus Amerika importierten Fest, das ebenso christliche wie heidnische Wurzeln hat, die jedoch kaum einem Menschen bewußt sind.

Fangen wir mit dem Namen an: „Halloween“ stellt die Zusammenziehung dreier englischer Wörter dar. Da haben wir einmal das veraltete Wort „hallow“, das „Heiliger“ bedeutet, und dann das Nomen „even“, was eine archaische Form von „evening“ darstellt und „Abend“ bedeutet. Zusammengezogen, assimiliert und verballhornt wird daraus dann der „All Hallow’s Evening“ oder „Allhalloween“ (aller Heiligen Abend), woraus sich endlich „Halloween“ ableitet. Im liturgischen Jahr der irischen und schottischen Kirche leitet Halloween den „All Saints Day“ ein, wie Allerheiligen auf englisch heißt, und der All Saints Day ist wiederum der erste Tag des Triduums aus All Hallows’ Eve, All Saints Day und All Souls Day (31. Oktober bis 2. November).

Religionshistoriker gehen davon aus, daß Halloween auf ein keltisches Erntedankfest zurückgeht, das im achten oder neunten Jahrhundert christlich umgedeutet und in die Liturgie übernommen wurde. Das erscheint überzeugend, denn Relikte von Geisterbeschwörungen, die sich in irischen und schottischen Halloween-Bräuchen erhalten haben, verweisen ebenso wie die bizarren Verkleidungen auf ein ursprünglich heidnisch-animistisches Weltbild, in dem Geister einerseits Teil der menschlichen Lebenswelt waren, andererseits durch Zauber, Magie und Verdoppelung in Form von Verkleidungen gebannt werden sollten.

Von den keltischen Wurzeln und dem christlichen Kern des Festes ist heute nicht mehr viel zu spüren. Mit irischen und schottischen Auswanderern erreichte Halloween die USA, wo es zu Beginn des 20. Jahrhunderts Aufnahme in die Populärkultur fand und dabei kommerzialisiert, verflacht und umgedeutet wurde. Binnen weniger Jahrzehnte wurde aus einem christlichen Fest, das einmal Fasten, Nachtwachen auf Friedhöfen und die Erinnerung an Vorfahren und Ahnen beinhaltet hatte, ein Zeichentrickfilm für Siebenjährige.

Als 1974 die erste New Yorker Halloween-Parade stattfand, aus der inzwischen der größte Nachtumzug auf der Welt mit 100 Millionen Fernsehzuschauern und 60.000 Mitwirkenden geworden ist, war Halloween da angekommen, wo Grimms Märchen nach ihrer Neuinterpretation durch Walt Disney und die skandinavischen Götter- und Heldensagen nach Tolkiens „Herrn der Ringe“ angekommen waren: in Adornos verdinglichter Waren- und Konsumwelt. Das ist eine inhaltsleere Sphäre von Tautologien, die nur noch auf sich selbst verweist und nur einen Zweck hat: Geld verdienen.

Der Werdegang des Allerheiligen-Festes und seine Neuinterpretation als Halloween zeigt anschaulich, daß in Jahrhunderten Aufgebautes in Jahrzehnten auf den Hund kommen kann, wenn man die Dinge einfach treiben läßt – ein Vorwurf, den man den Kirchen nicht ersparen kann.

Foto . Grabschmuck zu Allerheiligen und Kürbis-Dekoration zu Halloween: Das importierte Fest ist für viele eine Art zweiter Karneval

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