© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/14 / 31. Oktober 2014

Der Erste Weltkrieg und der Kriegseintritt der USA
Der eigentliche Gegner
Stefan Scheil

Wer im Frühjahr des Jahres 1918 die Muße besaß, eine Bilanz des bisherigen Kriegsverlaufs zu ziehen, für den konnten sich erstaunliche Perspektiven auftun. Im vierten Kriegsjahr hatte sich das Deutsche Reich gegen die Kriegsgegner mehr als nur behauptet.

Die ursprünglich französisch-russische Koalition „zur Eroberung Deutschlands und zu seiner Aufteilung in Kleinstaaten“ war gesprengt. Rußlands Zaren hatte man abgesetzt und sein Reich war sowohl revolutioniert wie zerteilt worden. In Mittel- und Osteuropa hatte Deutschland dafür gesorgt, daß die Umrisse der im Jahr 2013 existierenden Staatenwelt zum ersten Mal erkennbar wurden. Staaten wie Polen, die baltischen Länder, die Ukraine oder auch Georgien entstanden neu oder konnten sich wiederbegründen. Dies war jener deutschen Politik geschuldet, die ihren Ausdruck in dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk gefunden hatte, in dem die neugegründete Sowjetunion 1918 diese Länder aus dem Staatsverbund entlassen mußte.

Die Einschätzung, daß ein deutscher Sieg die ­­bessere Lösung ge­wesen wäre, hat prominente Anhänger. Was immer die deutsch-österrei­chische Hegemonie in Osteuropa bewirkt hätte, die „Bloodlands“ der totalitären Ära wä­ren es sicher nicht gewesen.

Im Westen konnten die deutschen Kriegsgegner – zu Frankreich hatte sich zu Kriegsbeginn aus deutscher Sicht einigermaßen überraschend auch noch Großbritannien gesellt – den Krieg aus eigener Kraft schon lange keinen einzigen Tag mehr länger führen. Allein durch amerikanische Waffen, amerikanischen Kredit und zunehmend auch durch amerikanische Soldaten wurden sie aufrechterhalten.

So konnte man den Eindruck gewinnen, als sei das ursprünglich ausgegebene deutsche Kriegsziel, sich vor weiteren russisch-französischen Aggressionen abzusichern, tatsächlich erreicht worden. Die neu entstandene Staatenwelt in Mittelosteuropa zeigte sogar eine Zukunft auf, in der Deutschland und Österreich-Ungarn bei neuer strategischer Sicherheit und konstantem Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum eine der wichtigsten Stellungen in der Weltpolitik zugefallen wäre. Das 20. Jahrhundert würde vielleicht ein deutsches Jahrhundert sein.

Solchen Aussichten stand nun allerdings ein Imperium aus Übersee entgegen. In Washington war man willens, die Maßstäbe der Weltpolitik künftig selbst festzusetzen, und ein gleichberechtigter Rang Deutschlands war dabei nicht vorgesehen. Insofern spitzte sich die Situation im Jahr 1918 zunehmend auf eine Frage zu: Wie weit wollten die Vereinigten Staaten den Konflikt mit Deutschland treiben?

Die Antwort blieb nicht lange aus. Hinter der Proklamation des amerikanischen Präsidenten Wilson, die besagte, daß in der neuen Weltordnung kein Staat dem anderen seine innere Ordnung vorschreiben dürfe, stand die amerikanische Absicht, selbst auf genau solche Weise zu verfahren. Mit Blick auf Deutschland mußte das eine Unterwerfung unter amerikanische Maßstäbe bedeuten, die nicht ohne vollkommene Niederlage und Revolution des Kaiserreichs erreicht werden konnte.

Letztlich sollte das 20. Jahrhundert ein amerikanisches und kein deutsches werden. Die Entscheidung darüber war im Jahr 1918 für einige Monate tatsächlich offen und hing sowohl von Entwicklungen in Berlin als auch in Washington ab. Ob Berlin die innenpolitische Situation stabil halten und alliierte Angriffe im Westen abwehren konnte und ob Washington unter dem Eindruck solcher Erfahrungen vielleicht doch einen Verhandlungsfrieden in Erwägung zog, das waren die offenen Fragen.

Daß es diese Situation gegeben hat, ist in der Folgezeit aus nachvollziehbaren Gründen in Vergessenheit geraten – was jedoch als Versäumnis angesehen werden muß. Die Einschätzung, daß ein deutscher Sieg für Europa die bessere Lösung gewesen wäre, hat teilweise prominente Anhänger:

„Der Erste Weltkrieg wurde nicht vermieden, weshalb die Frage, ob er hätte vermieden werden können, rein akademisch ist. Wenn ich sage, seine Verluste seien unerträglich hoch gewesen (worin die meisten Beobachter übereinstimmen), oder daß das deutsche Europa, das nach einem Sieg des Kaisers entstanden wäre, möglicherweise eine bessere Lösung gewesen wäre als die Welt von Versailles (meine persönliche Meinung), dann will ich damit nicht behaupten, es hätte auch anders kommen können.“

Mit diesen Sätzen verabschiedete sich mit Eric Hobsbawm der wohl prominenteste Kommunist unter den westlichen Historikern aus seiner vor zehn Jahren erschienenen Autobiographie. Man konnte daraus die leise Sehnsucht des jüdischstämmigen und in Wien aufgewachsenen Hobsbawm nach der Alten Welt von 1914 lesen, die nur ein Sieg der Mittelmächte hätte fortschreiben können. Was immer die deutsch-österreichische Hegemonie in Osteuropa bewirkt hätte, die „Bloodlands“ der totalitären Ära wären es sicher nicht gewesen. Auch als jahrzehntelanger Lehrstuhlinhaber in London und New York und trotz seiner marxistischen Grundhaltung legte Hobsbawm diese Perspektive nie ganz ab.

Natürlich hätte es aber in der Tat „anders kommen können“. Die Neigung von Historikern, über alternative Geschichtsläufe zu spekulieren, konkurriert jedoch stets mit ihrer Furcht davor, in diesem Fall unseriös zu wirken. Den Anteil des Zufalls im Geschichtsverlauf hat noch niemand sicher bestimmen können.

Immerhin lassen sich Zusammenhänge aufzeigen. Wie bereits bemerkt, stand die Option für ein deutsches Jahrhundert im Frühjahr 1918 noch offen. Allerdings waren die USA im Weg – und Deutschland sich wohl zum Teil auch selbst. Unter den innerdeutschen Entwicklungen, die den Erfolg schließlich verhinderten, nahm die mäandernde Debatte über eine mögliche Nachkriegsordnung sicher einen vorderen Platz ein. Einerseits entstand damals unter deutschem Druck erstmals in Grundzügen die heutige Staatenwelt Osteuropas. Andererseits brachte die Auseinandersetzung darüber den Zusammenhalt des Staates ins Wanken.

So war es zum Beispiel die Absicht des Militärs, vom Staatsgebiet des von Deutschland und Österreich proklamierten Königreichs Polen einen „Grenzstreifen“ zu annektieren, auf den man ethnisch oder historisch kaum Anspruch erheben konnte. Im preußischen Herrenhaus wurden Stimmen laut, die neuen Staaten seien in Personalunion an Preußen (wohlgemerkt: nicht an Deutschland) anzuschließen. Es meldeten sich noch andere deutsche Dynastien mit dem Anliegen, Fürstenthrone Osteuropas besteigen zu wollen.

Angesichts dieser Entwicklungen rumorte es in den Streitkräften erheblich, und das nicht nur unter den Mannschaftsdienstgraden. Auch mancher General vertraute seinem Tagebuch Gedanken an, aus denen Verachtung für ein System sprach, das solches zuließ. Dafür hatte man nicht gekämpft. Hier traf sich der Eindruck des Soldaten mit der Stimmung im Volk; Deutschland hatte einen Verteidigungskrieg mitgetragen, keinen Eroberungsfeldzug. Adlige oder ethnisch nicht gerechtfertigte Ansprüche erschütterten dieses Selbstbild und wiesen in Richtung Umsturz.

Auch die Planungen des Militärs hinsichtlich von Grenzziehungen im Westen waren kaum geeignet, zur Stabilität beizutragen. Man hatte 1914 Frankreich auf dem Weg über Belgien angegriffen und dies als einmaligen Fall von „Notwehr“ bezeichnet. Nun wollte man Belgien dauerhaft behalten. Statt einer politischen Initiative zur Beendigung des Krieges fiel den führenden Militärs nichts anderes ein, als noch eine weitere Offensive anzuordnen, die – siegreich oder nicht – den großen Verlusten weitere hunderttausend Tote und Verwundete hinzufügen mußte.

Die Fragwürdigkeit dieses Befehls stand bereits den Zeitgenossen vor Augen. Es gab keinen plausiblen Grund, warum ein weiterer Angriff nun jene Entscheidung bringen sollte, die vier Jahre lang keine Kriegspartei hatte erzielen können. Er wirkte wie ein Verzweiflungsschritt, um der drohenden amerikanischen Übermacht noch rechtzeitig zu entkommen.

Dieser Blick auf die USA als eigentlichem Gegner des Deutschen Kaiserreiches erklärt denn auch so manche Entwicklung, die nach außen kaum vermittelbar war. Der deutsch-amerikanische Gegensatz aus wechselseitiger Abneigung datierte bereits aus der Zeit vor 1914. Bis hinauf zum Kaiser war schließlich der Eindruck verbreitet, der laufende Krieg sei ohnehin nur die erste Runde im Kampf gegen den anglo-amerikanischen „Welttrust“ (Tirpitz ). Um hier bestehen zu können, schien der Sprung von der Verteidigungs- zur Weltmachtstrategie angemessen zu sein, eben jener Sprung, den das Volk nicht mitmachte.

Hätte es nun also anders kommen können? Natürlich ist es rein spekulativ, sich Gedanken über die erholsamen Folgen einer ausgebliebenen Westoffensive im Jahr 1918 oder über die innenpolitische Wirkung eines „Status quo 1914“-Angebots für die Westgrenze zu machen. Beides konnte sowohl innenpolitisch als auch in London und vor allem in Washington genausogut als Schwäche ausgelegt werden und das Gegenteil des Gewünschten bewirken. Einen sicheren Weg, um die Welteroberungslust der Westmächte zu dämpfen, gab es nicht. Ein Blick nach Washington kann das zeigen.

Zu den prominentesten Anhängern der Ansicht, daß der Erste Weltkrieg ein deutsches Jahrhundert hätte begründen können, gehörte kein Geringerer als der amerikanische Präsident. Der Krieg war kaum ausgebrochen, da vertraute Woodrow Wilson seinem Beraterkreis an, was seiner Meinung nach auf dem Spiel stand: Ein deutscher Sieg würde den Lauf der Zivilisation ändern.

Diese Einschätzung kam für Wilsons Umgebung nicht überraschend. In den Washingtoner Führungszirkeln wurde das Deutsche Reich schon seit langem als der eigentliche Unruheherd der Weltpolitik und als dunkle Bedrohung des eigenen Anspruchs, einzige Weltmacht zu sein, empfunden. Man war auf amerikanischer Seite davon überzeugt, daß das britische Weltreich sich Stück für Stück verdrängen und übernehmen ließe, dieser Prozeß war überdies längst im Gang. Von Deutschland nahm man das nicht an. Der finsteren Thematik entsprechend hatte man diesem Land deshalb in den Militärakten schon kurz nach der Jahrhundertwende den Code-Namen „Black“ gegeben.

Die USA erhoben den Anspruch, den Sinn des Geschichtsprozesses zu verkörpern und die Welt zu beherrschen. Kein Ausgang irgendeines Krieges des 20. Jahrhunderts gegen wechselnde Widersacher, ob nun heiß oder kalt, hat daran etwas geändert.

Nach Beginn des europäischen Krieges wurden die Planungen für den „War Black Plan“, den Krieg gegen Deutschland, intensiviert. Wenn dies der deutschen Führung auch zunächst verborgen blieb, mußte es bald offensichtlich werden. In den USA setzte eine umfangreiche innenpolitische Hetze gegen jene ein, die der Präsident persönlich die Bindestrich-Amerikaner nannte, die Deutsch-Amerikaner. Die Reichsregierung ließ sich ihre gegenteilige Öffentlichkeitsarbeit einiges kosten, hatte aber wenig Erfolg.

Da es Washington lieber gewesen wäre, wenn die europäischen Westmächte das Deutsche Reich ohne Mithilfe des amerikanischen Militärs besiegt hätten, gab es zunächst ausgiebige Kriegskredite und Materiallieferungen an die Gegner des Kaiserreichs. Man ließ zu, daß Waffentransporte unter einem „menschlichen Schutzschild“ auf Passagierschiffen stattfanden, leugnete das aber öffentlich ab. Die Angriffe auf solche Waffentransporte durch deutsche U-Boote beutete man propagandistisch für die weitere Dämonisierung der Deutschen aus.

Am Ende half alles nichts. Nach einem Wahlkampf, der zynischerweise unter dem Slogan „He kept us out of the war“ stattgefunden hatte, mußte Wilson die USA in den Krieg führen. Ob eine – absehbar extrem verlust­reiche – Schlacht amerikanischer Truppen mit einer gegebenenfalls nach Verzicht auf die Offensive 1918 gestärkten deutschen Armee in Washington einen Sinneswandel herbeigeführt hätte, wird immer Spekulation bleiben.

Grundsätzlich erhoben die USA den Anspruch, den Sinn des Geschichtsprozesses zu verkörpern und die Welt nach ihren Maßstäben zu beherrschen. Kein Ausgang irgendeines Krieges des 20. Jahrhunderts gegen wechselnde Widersacher, ob nun heiß oder kalt, hat daran etwas geändert. Ein deutsches Jahrhundert hätte wirklich den Lauf dieser Zivilisation ändern müssen.

 

Dr. Stefan Scheil, Jahrgang 1963, studierte Geschichte und Philosophie in Mannheim und Karlsruhe. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Vorgeschichte und Eskalation des Zweiten Weltkriegs sowie zum politischen Antisemitismus in Deutschland, darunter „Fünf plus Zwei“. 2005 wurde Scheil mit dem Gerhard-Löwenthal-Preis für Journalisten ausgezeichnet, in diesem September mit dem Historiker-Preis der Schweinfurter Kronauer-Stiftung.

Stefan Scheil: „Mitten im Frieden überfällt uns der Feind.“ Vergessene Wahrheiten des Ersten Weltkriegs – Die Schuld der Sieger in den Debatten der zwanziger Jahre, Landt-Verlag, Berlin 2014, gebunden, 275 Seiten, 29,80 Euro. Der Beitrag auf dieser Seite ist – mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag – ein Auszug aus dem Buch.

Foto: US-Propaganda von 1918 mit Präsident Wilson und der „Freiheitsglocke“: „America First“ als Ergebnis

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