© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/14 / 31. Oktober 2014

Zur Einheit nur auf Umwegen gelangt
Drei prominente Sozialdemokraten über die Rolle der SPD im Einigungsprozeß 1989/90
Herbert Ammon

Der Vorwurf, die deutsche Einheit als politisches Ziel preisgegeben zu haben, haftet der SPD teilweise bis heute an. Um gegen ebensolche „Vorurteile“ und „bestimmte Vorwürfe“ anzugehen sowie zur Erinnerung an den 9. November 1989 haben die Sozialdemokraten Hans-Jochen Vogel, Erhard Eppler und Wolfgang Thierse ihren publizistischen Beitrag vorgelegt.

Den Titel verdankt das Buch den Worten Willy Brandts am 10. November, wobei unklar bleiben muß, ob er sie bereits am Morgen vor der Mauer oder erst am Abend vor dem Schöneberger Rathaus ausgesprochen hat: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Mit diesem Satz nahm der antifaschistische Patriot Brandt allen Gegnern der kommenden deutschen Einheit im In- und Ausland den Wind aus den Segeln. Kaum bekannt: Brandt hatte dieselben Worte schon im September 1989 in einem Bild-Kommentar gebraucht.

Das Buch überzeugt in allen drei mit Leidenschaft geschriebenen Beiträgen. Vogels Widerlegung des angeblichen Sündenkatalogs, von Angela Merkel noch am 2. September 2000 vorgetragen, mag zu lang geraten sein. Zuvor bietet er eine spannende Chronologie des Einheitsjahres, in dem sich die Mauer und das geschichtliche Zeitfenster öffnete. Zu Recht erinnert Vogel daran, daß er als Oppositionsführer – noch vor Kohl – im Bundestag das Konzept einer Konföderation – Nikolai Portugalow hatte es am 21. November gegenüber dem Kohl-Vertrauten Horst Teltschik ins Spiel gebracht – und der Währungsunion vorgetragen hat. Kohl hatte seinen alle Welt frappierenden Zehn-Punkte-Plan indes bereits am Tag zuvor an die Presse lanciert.

Lafontaines bedenkliche Rolle wird kaum kritisiert

Zu vermerken ist ein faktischer Fehler im Zusammenhang mit der von Kohl aus Parteitaktik noch „offengehaltenen“ östlichen Grenzfrage: Es gab „von polnischer Seite“ keinen „Vertrag vom 23. August 1953“ über den Verzicht auf Reparationen, sondern nur eine auf Druck Moskaus erfolgte Regierungserklärung. Erhard Eppler, gesamtdeutscher Politiker aus Heinemanns 1956 aufgelöster Gesamtdeutscher Volkspartei (GVP), bietet aufschlußreiche Details über das 1987 scharf kritisierte, von der SPD-Grundwertekommission und Vertretern der SED-Akademie erarbeitete Papier zum „Streit der Ideologien und der gemeinsamen Sicherheit“. Durch den im Neuen Deutschland publik gemachten Verzicht der SED auf das kommunistische Deutungsmonopol eröffnete es der kirchlichen Opposition neue Spielräume. Es fand Widerhall in der SED, was nach Intervention des betonköpfigen Chefideologen Kurt Hager die Erosion der SED-Diktatur beförderte. Eppler, der am 17. Juni 1989 eine das Ende der DDR prognostizierende Rede hielt, rekapituliert die Positionen innerhalb der SPD-Führung. Zu den Einheitsbefürwortern der ersten Stunde zählten außer Vogel und Eppler, der bereits im Sommer 1989 vom Einheitsverlangen seitens junger „linker“ DDR-Oppositioneller berichtet hatte, Experten wie Hans-Ulrich Klose, Horst Ehmke, Klaus von Dohnanyi, Johannes Rau und Karsten Voigt.

Wolfgang Thierse blieb „im Unterschied zu den meisten (...) Intellektuellen in der DDR eine (langsam kleiner werdende) trotzige Hoffnung auf die deutsche Einheit erhalten, die Sehnsucht nach einem wieder gemeinsamen Deutschland“. In seinem Text werden die von Mal zu Mal, vom 17. Juni 1953 bis in die 1980er Jahre enttäuschten Hoffnungen der DDR-Deutschen auf Veränderungen zum Besseren hin anschaulich. Das Regime schaffte sich durch ideologischen Starrsinn und Unfähigkeit selbst ab.

Zu Recht kritisiert Thierse, der erst im Januar 1990 in die damals schon SPD (der DDR) genannte Partei eintrat, das Festhalten an der Zweistaatlichkeit im Gründungsaufruf der SDP (7. Oktober 1989), die mit der „schuldhaften Geschichte“ begründet wurde. Der Katholik Thierse verzichtet auf eine Erwähnung der zum Zentralbegriff deutscher Protestanten avancierten Darmstädter Rede Rede Karl Barths von 1947 von der „deutschen Schuld“. Ihm wollte es zu Recht nicht einleuchten, warum vor allem die DDR-Bürger die Hauptlast der Schuld zu tragen gehabt hätten.

Dennoch seien einige Kritikpunkte benannt: Erstens wird das ostentative Desinteresse eines Oskar Lafontaine im Einheitsjahr nicht in aller Schärfe kritisiert. Ein paar Jahre später machte er durch seinen Beitritt die – dank permanentem Namenswechsel und dank des nach Österreich transferierten Parteivermögens überlebende – PDS/Linkspartei/Die Linke zu einem wichtigen Faktor im vereinten Deutschland. Mutmaßlich war die Niederlage der Sozialdemokraten bei den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 ebenso dem Auftreten Lafontaines wie der Enttarnung der von der Stasi erpreßten Unglücksfigur Ibrahim Böhme zuzuschreiben.

Egon Bahr hielt lange an der Zweistaatlichkeit fest

Zweitens werden von Eppler mit relativer Nachsicht die Grünen bedacht, in deren Reihen sich gegenüber den gesamtdeutsch orientierten Mitgründern alsbald die Einheitsgegner durchgesetzt hatten. Die in den Medien hofierten, der deutschen Einheit abgeneigten Grünen reichten von der „Toskana-Fraktion“ – in der SPD repräsentiert von Lafontaine – bis hin zu den späteren „Antideutschen“, vom Stasi-IM Dirk Schneider als „deutschlandpolitischer Sprecher“ ganz abgesehen. Die verquere Psychologie der Grünen, die nahezu einhellige Ablehnung der Wiedervereinigung, ist kaum mit den Lebenserfahrungen einer jüngeren Generation, aufgewachsen im Blick auf Westeuropa, zu erklären. Immerhin belehrte Eppler die Grünen-Faktion am 24. Oktober 1989, daß die Frage der Einheit nicht von ihnen abhinge, sondern allein von den DDR-Deutschen.

Drittens hätte das Buch eine Anmerkung zu der von den Parteigliederungen offenbar gehorsam befolgten Linie von Egon Bahr verdient. Dies in zweifacher Hinsicht: Bahr, der noch nach dem Mauerfall an der Zweistaatlichkeit festhielt, war auf die Souveränisierung der beiden deutschen Staaten fixiert, die er in Kooperation mit der DDR-Führung – etwa Hermann Axen – sowie in stetem Kontakt mit Moskau für realisierbar hielt. Auf langen Umwegen, für die er selbst seine ältere, ernstgemeinte Rhetorik von der einen, unteilbaren Nation beiseite legte, gedachte er das Einheitsziel zu erlangen. Für die opponierenden Gruppen in der DDR hatte er kein Verständnis, und er unterschätzte die Dynamik des Machtverfalls der SED und in der Sowjetunion unter dem als „Reformer“ angetretenen Gorbatschow.

Fazit der Analyse: Nach all dem Unheil des 20. Jahrhunderts hatten wir Deutsche vor und nach dem 9. November unfaßbares Glück. Am 3. Oktober 1990 stand Vogel vor dem Reichstag, als die Einheit mit Bundesfahne und Nationalhymne vollzogen wurde: „Es war ein Abend ohne emotionalen Überschwang, aber voll Dankbarkeit gegenüber dem Schicksal – oder für mich persönlich dem Herrgott gegenüber – vor allem dafür, daß die deutsche Einheit ohne einen Schuß und ohne einen Tropfen vergossenen Blutes zustande gekommen ist.“

Hans-Jochen Vogel, Erhard Eppler, Wolfgang Thierse: Was zusammengehört. Die SPD und die deutsche Einheit 1989/90. Herder Verlag, Freiburg i. Br. 2014, gebunden, 288 Seiten, 19,99 Euro

Foto. Willy-Brand-Anhänger während der Montagsdemonstration in Leipzig, März 1990: Ostentatives Desinteresse an nationaler Einheit

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