© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

„Ein fataler Irrtum“
Verhaftet, entführt und verurteilt. Als junger Mann geriet Karl Wilhelm Fricke in die Fänge des SED-Staates / Später galt der leitende Deutschlandfunk-Redakteur bis zum Mauerfall 1989 als bester Kenner des Unrechtsregimes der DDR
Moritz Schwarz

Herr Dr. Fricke, war die DDR ein Unrechtsstaat?

Fricke: Ich antworte mit einem Zitat von Joachim Gauck: „Die DDR war ein Unrechtsstaat (...) Willkür regierte das Land.“ So in seiner Leipziger Rede vom 9. Oktober. Das bekräftige ich aus meiner Erfahrung als ehemals Verfolgter der SED-Diktatur ausdrücklich.

Hätten Sie es für möglich gehalten, daß 25 Jahre nach dem Fall der Mauer noch eine Debatte darum möglich ist?

Fricke: Nein. Nach der kritischen Aufarbeitung unter anderem auch der DDR-Justizgeschichte durch die Bundestagsenquetekommissionen hatte ich eigentlich erwartet, daß die Problematik politisch bewältigt ist. Übrigens: Im deutschen Einigungsvertrag von 1990 steht schon das Stichwort „SED-Unrechtsregime“. Und die am 18. März 1990 frei gewählte DDR-Volkskammer hat dem mit übergroßer Mehrheit zugestimmt. Seinerzeit eine politische Selbstverständlichkeit.

Wir waren also schon mal weiter. Warum dann dieser Rückfall?

Fricke: Die Debatte wurde von Gregor Gysi provoziert. Er war in der Ära Honecker Rechtsanwalt in Ost-Berlin – rund zwei Jahrzehnte lang – und zwar in prominenter Position. Er müßte eigentlich tiefe Einblicke in das Elend der Justiz in der DDR gewonnen haben, zumal als Verteidiger vor den Strafgerichten des Unrechtsregimes. Wenn er sich dennoch bis heute schwer damit tut, in der DDR das zu sehen, was sie für Jahrzehnte gewesen ist, hat das wohl persönliche Gründe.

Nämlich?

Fricke: Gysi will kein „Unrechtsanwalt“ gewesen sein. Seine Wortmeldung fügt sich ein in die seit einigen Jahren wahrnehmbaren Versuche früherer Eliten des alten Regimes, das historische Bild der DDR weich zu zeichnen und den SED-Sozialismus zu verklären.

Welches Bild haben Sie als SED-Verfolgter persönlich von der DDR gewonnen?

Fricke: Mein Bild von der heranziehenden Diktatur wurde durch meine Erlebnisse nur bestätigt. Ich wurde im Februar 1949 – die DDR war noch nicht gegründet – in Hoym bei Aschersleben in der Schule, in der ich als Hilfslehrer tätig war, während des Unterrichts festgenommen. Zum Glück aber konnte ich nach wenigen Stunden aus einer Dienststelle der Volkspolizei flüchten und über die Zonengrenze nach Westen entkommen. Das Erlebnis war eine entscheidende Zäsur in meinem Leben.

Sie begannen in West-Berlin, als Journalist über die DDR aufzuklären, wurden aber von der Stasi in eine Falle gelockt. War Ihnen die Gefahr nicht klar?

Fricke: Nein, mit dieser Gefahr habe ich damals nicht gerechnet. Als junger, kaum bekannter Journalist hielt ich mich nicht für so wichtig, daß die Stasi eine Menschenraubaktion gegen mich planen und durchführen könnte. Ein fataler Irrtum. Nachdem ich am Nachmittag des 1. April 1955 in einer konspirativen Wohnung in Berlin-Schöneberg, damals amerikanischer Sektor, betäubt worden war, wurde ich nach Aktenlage gegen Mitternacht bewußtlos im Schutze der Dunkelheit in das Stasi-Zentralgefängnis Berlin-Hohenschönhausen „verbracht“. Als ich am folgenden Tag die Nachwirkungen des Betäubungsmittels überwunden hatte, begann die erste Vernehmung. Mir wurde geradezu schockartig klar, was mir passiert war!

In einem Geheimprozeß wurden Sie abgeurteilt.

Fricke: Das oberste DDR-Gericht verurteilte mich 1956 wegen „Boykotthetze“ zu vier Jahren Zuchthaus – unter Anrechnung der Untersuchungshaft, die ich in Brandenburg-Görden und in Bautzen II verbüßt habe. Übrigens immer in Einzelhaft.

Vorgesehen waren allerdings 15 Jahre. Warum die „Milde“?

Fricke: Das in Ihrer Frage als „milde“ apostrophierte Urteil erklärt sich aus dem für mich glücklichen Umstand, daß mein Prozeß in einer Periode des politischen Tauwetters stattfand. Deshalb ließ mich die Stasi – die mich auch nach meiner Entlassung als Feind eingestuft und beobachtet hat – in Ruhe. Außerdem wollte das Ministerium für Staatssicherheit nicht zweimal dieselbe Dummheit begehen.

Warum war Ihre Entführung aus Sicht des MfS eine „Dummheit“?

Fricke: Sie war mehr als töricht. Denn sie brachte der Stasi keinerlei operativ verwertbare Erkenntnisse, machte mich aber nach meiner Rückkehr als Journalist so bekannt, daß ich fortan gewissermaßen unter dem moralischen Schutz der Öffentlichkeit stand. Ich bin sogar nach Inkrafttreten des deutsch-deutschen Grundlagen-Vertrags als Reisekorrespondent des Deutschlandfunks in die DDR gereist. Nach Erscheinen meines Buches über Opposition und Widerstand in der DDR bekam ich allerdings Schwierigkeiten.

Heute gelten Ihre Bücher über die DDR-Opposition und das SED-Unrechtssystem als Standardwerke. Der DDR-Forscher Johannes Kuppe nannte Sie etwa in einem Interview 2008 gar den „Papst für Widerstand und Unterdrückung“ in der DDR und Ihre Arbeiten hätten „das Thema Repression in der DDR tatsächlich allein abgedeckt. Was zu sagen war, hat Fricke publiziert.“ Wie vertrug sich das eigentlich mit Ihrer Arbeit als Journalist? Denn laut Hans-Joachim Friedrich macht sich „ein guter Journalist nicht mit einer Sache gemein, auch nicht mit einer guten“.

Fricke: Die Meinung von Hans-Joachim Friedrich respektiere ich – aber ich teile sie nicht. Mein journalistisches Selbstverständnis war bewußt politisch und bestimmt von dem Bemühen, in der Zeit der deutschen Teilung über die DDR zu informieren und zum Zusammenhalt der Nation beizutragen. Es war kein Zufall, daß ich fast ein Vierteljahrhundert beim Deutschlandfunk gearbeitet habe. Die Stasi nannte ihn „Feindsender“, weil er als grenzüberschreitende Informationsquelle das Informationsmonopol der SED durchbrach.

Sie galten lange als das „Musterbeispiel“ eines SED-Opfers und -Kritikers. Wie hatten Sie sich damals denn eine Bewältigung der DDR nach deren Untergang vorgestellt?

Fricke: Aus dem Charakter des Umbruchs in der DDR als friedlicher Revolution ergab sich, daß die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit mit dem Instrumentarium des Rechtsstaates zu erfolgen hatte – mit seinen Stärken und Schwächen. Das erklärt manche Unzulänglichkeiten.

Das stellt Sie als Opfer zufrieden?

Fricke: Wir müssen uns damit abfinden, wenn wir den Rechtsstaat nicht beschädigt sehen wollen. Das Grundgesetz, um konkret zu sein, gilt auch für die Linke.

Natürlich, das ist auch nicht gemeint, sondern die gesellschaftliche Aufarbeitung. Was halten Sie etwa von der populären These, die DDR sei so schlimm nicht gewesen, könne etwa nicht mit dem Dritten Reich verglichen werden?

Fricke: Nichts. Denn vergleichen läßt sich alles. Aber vergleichen heißt nicht gleichsetzen.

Hat sich die klare Benennung der DDR als Unrechtstaat im Laufe der Entspannungspolitik nicht deutlich verringert? Wirkt dieses Erbe vielleicht bis heute nach?

Fricke: Das glaube ich nicht. In den beiden Enquetekommissionen des Parlaments wurden auch wesentliche Fragen zur deutschen Einheit, auch wesentliche Fragen der DDR-Repressions- und Oppositionsgeschichte aufgearbeitet.

Auf der staatlichen Ebene ja, aber wie sieht es auf der gesellschaftlichen aus?

Fricke: Die Themen Repression, Opposition und Widerstand in der DDR waren in der etablierten DDR-Forschung der siebziger und achtziger Jahre tatsächlich weitgehend tabuisiert. Das geschah aus falsch verstandener politischer Rücksicht auf die zwischen den Regierungen in Bonn und Ost-Berlin angestrebte Entspannung. Und wer das Tabu als Politiker oder Autor brach, der galt als „Kalter Krieger“.

Ein Vorwurf, der auch Helmut Kohl immer wieder gemacht wurde. Der meint dafür – so wurde jüngst bekannt –, das Ende der DDR sei keineswegs das Verdienst der dortigen Opposition, sondern sei dem wirtschaftlichen Kollaps zuzuschreiben.

Fricke: Der Umbruch in der DDR 1989 kann nicht monokausal erklärt werden. Neben ökonomischen und sozialen Ursachen beruhte er auch auf eminent politischen Krisenelementen. Unter der Diktatur der SED hatte sich eine revolutionäre Krise entwickelt, die sich nach den Massendemonstrationen in Plauen, Leipzig, Ost-Berlin und anderswo in der DDR dramatisch zuspitzte und am 9. November 1989 zur Öffnung der Berliner Mauer führte. Als sich erkennen ließ, daß die in der DDR damals noch stationierten Truppen der Sowjetarmee „Gewehr bei Fuß“ blieben, sich also nicht einmischten wie seinerzeit am 17. Juni 1953, da war das Ende des SED-Regimes besiegelt. Seine Macht war zu jeder Zeit ohne demokratisches Mandat gewesen. Die Opposition in der DDR wirkte in diesem Umwälzungsprozeß gleichsam als Katalysator, wobei allerdings die Flucht- und Ausreisebewegung in der DDR bedacht werden muß.

Wenn der wirtschaftliche Faktor mitentscheidend war für den Zusammenbruch des Unrechtsstaats DDR, waren dann die Milliardenkredite der CDU/CSU-geführten Bundesregierung ab 1983 nicht folglich „verbrecherisch“?

Fricke: Im Gegenteil. Sie waren das „süße Gift“, das den Todeskeim in Honeckers Sozialismus trug und die DDR in Abhängigkeit zur Bonner Republik brachte.

Heute stellen wir uns unter „DDR-Opposition“ die bekannte Bürgerrechtsbewegung vor, geprägt von Reform-Kommunisten und Sozialisten wie Robert Havemann, Rudolf Bahro oder Wolf Biermann. Davor gab es aber eine ganz andere, konservative bis nationale DDR-Opposition. Diese ist heute völlig vergessen. Zu Recht?

Fricke: In der SBZ/DDR existierten tatsächlich widerständige Kräfte, die schon 1946 wahrnehmbar waren. Es war weithin eine Fundamentalopposition, oft konsequent antikommunistisch und in der Tat vielfach patriotisch oder national eingestellt. Vereinzelt handelte es sich um militante „Werwolf“-Gruppen, sodann um Sozialdemokraten, die sich nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD den „rotlackierten Nazis“ – wie der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher sie einst nannte – widersetzen wollten. Ferner studentische Oppositionsgruppen an den Universitäten Berlin, Halle, Leipzig und Rostock. Sie wurden aber zunächst vom NKWD – wie der KGB damals hieß – und von sowjetischen Militärtribunalen zerschlagen und zu Zwangsarbeit oder Todesstrafe verurteilt. Später dann von DDR-Tschekisten – also der Stasi – und DDR-Gerichten verfolgt.

Etliche Vertreter dieser ersten Opposition leben noch, erfahren aber keine Ehrung. Ja, sie gelten sogar wegen ihrer antikommunistischen, konservativen oder rechten politischen Einstellung heute oft als „nicht gesellschaftsfähig“.

Fricke: Viele Akteure von damals gehören heute zur UOKG, der „Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft“. Hier ist auch ihr historisches Erbe in guten Händen. Ihr Verdienst besteht darin, schon in der Nachkriegszeit die politische Gefahr der heraufziehenden Diktatur erkannt und bekämpft zu haben.

Dennoch, gesellschaftliche Anerkennung erhalten Sie nicht – im Gegensatz zur späteren Bürgerrechtsbewegung. Dabei haben Sie zu einer Zeit gegen die DDR-Diktatur gekämpft, als das noch sehr viel gefährlicher war als zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung.

Fricke: Sie haben recht: Die Geschichte der frühen Opposition und des Widerstands in der SBZ/DDR bis zum Bau der Berliner Mauer wird heute nur von wenigen Zeithistorikern erforscht und gewürdigt. Hier bedarf es in Zukunft zweifellos einer historischen Differenzierung und einer Korrektur.

 

Dr. Karl Wilhelm Fricke, der DDR-Experte und „beste Kenner des MfS“ (FAZ) beschrieb in zahlreichen Publikationen den SED-Unrechtsstaat und lieferte 1979 die „erste umfassende Darstellung der Stasi“ (Spiegel). Geboren 1929 in Hoym, heute Sachsen-Anhalt, weigerte sich Fricke, der FDJ beizutreten, und wurde schließlich Opfer der DDR-Justiz (Bild rechts als Häftling 1959). Nach seiner Entlassung profilierte sich der Journalist im Westen als DDR-Fachmann. Im Auftrag der Bundesregierung wies er etwa in einer Studie nach, daß allein bis 1968 etwa 75.000 bis 100.000 Deutsche in der SBZ/DDR aus politischen Gründen verurteilt wurden. Auch als leitender Redakteur des Deutschlandfunks klärte er von 1970 bis 1994 über die DDR auf. Dann berief ihn der Bundestag als Sachverständigen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Zudem war Fricke lange Beiratsvorsitzender der Stiftung Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Foto: DDR-Grenzer an der Berliner Mauer (1978): „Bundespräsident Gauck hat recht, ‘Willkür regierte das Land‘“

 

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