© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Wo die Avenida Hindenburg heißt
Besuch in Filadelfia: Im Herzen Paraguays lassen Mennoniten unter dem Motto „Glaube, Arbeit, Eintracht “ öde Landstriche erblühen
Lukas Noll

Quietschend schaukelt das „Tracto“-Schild an seinem Mast hin und her. Der vorbeifahrende Pickup wirbelt noch mehr Staub auf, als der starke Wind ohnehin schon. Das heißt im Gran Chaco vor allem Sand, wohin das Auge blickt. „Der Weg nach Loma Plata ist nicht schwer zu finden“, sagt Chris in merkwürdigem Deutsch. „Eigentlich geht das nur aus Filadelfia raus, geradeaus und einmal rechts. Das Problem ist nur, daß man beim Sandsturm die wenigen Straßenschilder nicht sieht.“

Drei Telefonate mußte der junge Autohändler führen, auf plattdeutsch, nur beim Auflegen ein spanisches „Dále“. So ein Aufwand nur, um zu erfahren, von welcher Salzlagune die beiden Fremden sprechen, die für den Besuch einen Wagen mieten wollen. Eine Touristenattraktion soll das sein.

Indios zollen „fleißigen Deutschen“ Respekt

Doch welcher Tourist verirrt sich hier in die Kolonie Fernheim? Das zwanzig Kilometer entfernte Loma Plata ist einer der wenigen Orte in Fernheim, die zumindest sprachlich vermuten lassen, wo man sich befindet: in Paraguay. Als wäre das arme Binnenland nicht abgelegen genug, liegt die Kolonie Fernheim auch noch mitten im Chaco, der riesigen Savanne in der Peripherie des Nordwestens. Was Chris’ Schicksal viel eigenartiger macht als die Anwesenheit zweier Touristen.

Doch warum wohnt und arbeitet der gebürtige Württemberger hier? Chris ist Mennonit. Auch wenn er sich selbst nicht so vorstellen würde: „Mennonit ist mein Glaube und auch nur eine Form des Protestantismus“, erklärt er. Als Jugendlicher sei er mit seinen Eltern aus dem schwäbischen Balingen nach Paraguay gekommen. Heute arbeite er in der Autovermietung hier in Filadelfia, der größten Stadt im Chaco, vor einem Jahr habe er geheiratet. „Eine Mennonitin?“ Schon wieder dieses Wort. „Ja“, antwortet er zögernd. „Eine Deutsche.“

Allein unter sich sind sie hier eigentlich nicht in Filadelfia, „die Deutschen“. 2.500 von 13.000 Einwohnern sprechen muttersprachlich „Plautdietsch“, den Großteil stellen Indios aus dem Chaco, die sich nach der Gründung der Kolonie 1930 hier langsam ansiedelten. Doch das Deutsche sticht an jeder Straßenecke hervor. Sämtliche Schilder weisen auf Spanisch und Deutsch zu ihrem Ziel. Die umliegenden kleinen Gemeinden heißen Neuland, Wüstenfelde oder Friedensruh.

Der Verkehrsknotenpunkt der Hauptstadt Filadelfia ist die Avenida Hindenburg. Dem letzten Reichspräsidenten der Weimarer Republik verdanken sie die freundliche Aufnahme in Deutschland. Die rußlanddeutschen Mennoniten hatten nach jahrzehntelanger Verfolgung eine Art Zwischenstopp in Deutschland und Kanada eingelegt, bis das südamerikanische Paraguay ihnen Land anbot. Im Juli 1921 verabschiedete das Parlament das Gesetz 514. In acht Artikeln gewährte es den Mennoniten beträchtliche Sonderrechte, die bis heute gelten. Dazu gehören Religionsfreiheit, die Befreiung vom Wehrdienst, das Recht deutsche Schulen zu betreiben, eine besonderere, an der Bibel ausgerichtete Verfügung über Vormundschaftsregeln von Witwen und Waisen sowie das Verbot des Verkaufs alkoholischer Getränke in der Kolonie.

Doch das großzügige Landangebot präsentierte sich jedoch weniger großzügig, als zunächst geglaubt, stellt Heike, die Fremdenführerin in der kleinen Touristeninformation an besagter Avenida Hindenburg klar: „Wir haben hier von Null angefangen. Da war gar nichts!“ Die Eisenbahn habe damals mitten im Chaco aufgehört. Die Neuankömmlinge mußten sich fortan auf Kutschen und Viehwagen fortbewegen. „Hunderte von uns hat allein die strapaziöse Reise das Leben gekostet“, sagt Heike für einen Moment resigniert. Doch dann klingt sie wieder stolz, als hätte sie selbst den Spatenstich gesetzt: „Wir haben mitten in der Einöde so tief gegraben, daß plötzlich Wasser sprudelte!“

Seitdem blüht und gedeiht der Gran Chaco. In einer denkbar ungeeigneten Umgebung betreiben Paraguays Mennoniten Landwirtschaft in einer Professionalität, wie man sie sich im Rest des Landes wünschen würde. 80 Prozent der nationalen Rinderzucht gehen auf das Konto der einst leblosen Savanne, Milchwirtschaft und Ackerbau tragen den Rest zum Wachstum der Region bei. Im Land sind die „fleißigen Deutschen“ ehrfürchtig in aller Munde.

Das Deutschtum in Paraguay klingt wie eine einzige Erfolgsgeschichte. Mitten in der Einöde ist Zivilisation entstanden, mit eigener Verwaltung, eigener Infrastruktur und dem öden Departamento Boquerón. Dennoch bezieht dessen Hauptstadt Filadelfia ihr Wasser aus zwanzig Zisternen. An eine Wasserleitung aus dem paraguayischen Süden ist nach wie vor nicht zu denken, obwohl das Land zwischen Río Paraguay und dem Río Paraná eines der wasserreichsten Südamerikas ist. Doch als Paraguayer verstehen sich viele Mennoniten ohnehin nicht.

Dies hat nicht nur mit unterschiedlichen Schulen, Straßenschildern und Kirchen zu tun, sondern auch mit der „Korporative“. Fast alle sind sie hier in ihr organisiert und entrichten ihr die monatlichen Abgaben. Die Korporative zeigt sich im Gegenzug großzügig. Kommt für Schulen, Straßen, Krankenhäuser und andere soziale Einrichtungen auf. Auch stehe jeder Familie ein Haus zur Verfügung. Pachtweise, größere Ausmaße von Privateigentum sieht die Korporative nicht vor. Definieren sie sich doch als Schicksalsgemeinschaft. Mitglied der Korporative sind alle Mennonitenfamilien, vertreten werden sie durch den Mann mit seinem alleinigen Stimmrecht.

Zu Paraguayer, Mestizen, Indios? „Die sind nicht über die Korporative organisiert“, erklärt Heike schmallippig. „Wir Mennoniten haben drei Grundwerte – Glaube, Arbeit und Eintracht“, holt sie aus und sagt es noch einmal auf spanisch, als wirke das überzeugender. „Fe, trabajo y unidad… und zur unidad gehört auch honestidad. Ehrlichkeit.“ Doch darauf könne man in Paraguay „leider nicht immer viel geben“.

Doch auch die Korporative sieht nicht jeder hier als so ehrlich an. Walter Dicks errichtete sein Haus etwas außerhalb am Stadtrand. Sein eigenes Haus. „Ihre Häuser nehmen sie dir genauso schnell wieder weg, wie du sie bekommen hast, sobald du aufmuckst“, erklärt er. „Ich habe lieber mein eigenes Hab und Gut.“ Tagsüber arbeitet er in einem kleinen Elektroladen nahe des Ortsausgangs Richtung Norden, wo die Avenida Hindenburg in die Ruta Transchaco mündet.

Die Autobahn verbindet den Chaco seit 1961 mit dem Rest des Landes und führt von Asunción nahezu kerzengerade 835 Kilometer in den Nordwesten. Walter fährt die Strecke manchmal bis nach Asunción herunter, um gewisse „Vorkommnisse“ an die paraguayischen Behörden zu melden.

Sich selbst bezeichnet er als Privatdetektiv. „Du kannst hier niemandem trauen“, sagt er geheimnisvoll. Es sei ein „Irrglaube, daß die Mennoniten da viel besser sind als die Latinos.“ Fünfzehn Jahre lang diente Dicks in Hamburg in der Bundeswehr, dann kehrte der Deutsche nach Paraguay zurück. Als Mennonit sieht er sich nicht. „Ich will mit diesem Haufen nichts zu tun haben.“

Auf die Finger aber schaut der selbsternannte Privatdetektiv den Menschen hier gern, gerade im Umgang mit den Ureinwohnern. „Paternalismus, wie sie es nennen, ist ein Euphemismus!“, schnaubt er. „Für einen toten Hund fahren die sofort bis nach Asunción. Wenn’s nur ein Indio war, kann man froh sein, wenn nicht noch drübergefahren wird.“ Mit Trunkenheit am Steuer hat das nichts zu tun. Alkohol ist in Filadelfia geächtet. Erst seit ein paar Jahren lassen sich alkoholische Getränke überhaupt in kleinen Läden auftreiben. Im großen Einkaufszentrum an der Avenida Hindenburg sucht der Durstige sie vergebens.

Eine Paraguayerin, durch und durch Latina, zieht gut gelaunt die Einkäufe über den Barcodescanner. Man muß nicht ihr Landsmann sein um davon angesteckt zu werden. Ihr Lächeln ist warm, der Blick vertrauenerweckend. Die meisten Gesichter strahlen jedoch anderes aus. Den beiden deutschstämmigen Frauen am Ausgang kommt kein Gruß über die Lippen. Mißtrauisch, fast widerwillig rücken sie die Rucksäcke heraus, die der Kunde vor dem Einkauf hier abzugeben hat.

Die Nähe der Verwandtschaftsverhältnisse hier in Filadelfia strahlt beinah jedes zweite Gesicht aus. Dabei sind Filadelfias Mennoniten noch der bunteste Haufen unter den verschiedenen Korporativen in Südamerika. „Meine Frau ist Brasilianerin!“, lacht Raimund Friesen, der Geschäftsführer von Filadelfias größtem Hotel. Mit seinem stramm gescheitelten Blondschopf könnte Friesen preußischer nicht aussehen. Dabei spricht er nach eigenem Bekunden längst besser Spanisch als Deutsch, ist er doch hier geboren. „Das mit der Inzucht ist ein ziemliches Vorurteil. Die Korporative Fernheim erlaubt es mir natürlich, zu heiraten, wen ich will!“ Andere Korporativen seien da deutlich strenger. Vor allem die Korporativen in Bolivien.

Die Ruta Transchaco verbindet Filadelfia mit den Korporativen im Nachbarland, sechs Stunden dauert die Busfahrt bis zur bolivianischen Grenze. Am heruntergekommenen Busbahnhof wartet eine indianische Frau mit Tochter auf den Bus gen Norden. Sie will ihre Familie besuchen. Aus der kaputten Klimaanlage tropft unaufhörlich Lüftungswasser. Für die Kleine ein Heidenspaß. Daß die beiden vom Stamm der Guaraní sich auf die Fahrt freuen, ist überdeutlich zu sehen. Die etwas schüchternen Worte der Mutter geben zu erkennen, daß es nicht nur an der funktionstüchtigen Klimaanlage im Fernbus liegt. Gibt doch jenseits der Grenze ein Indio den Ton an. Keine Korporative.

Foto: Denkmal auf der Kreuzung der Hindenburgstraße / Fremdenführerin Heike (r.) erklärt die Geschichte der Kolonie Fernheim: „Wir haben hier von Null angefangen. Da war gar nichts“

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