© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Es geht um die deutsche Frage
Literatur: Ein Wenderoman müßte den gleichen Abstand zur DDR und zur Bundesrepublik halten
Thorsten Hinz

Mit dem Mauerfall schien auch das Ende der DDR-Literatur ebenso wie der bundesdeutschen gekommen. Es wurde nach der großen Erzählung gerufen, die den neuen Anfang setzt. Ab 1995 bürgerte sich dafür der Begriff „Wenderoman“ ein. Seither wird bei jedem neuen Buch, dessen Handlung auf den November 1989 zuläuft, darüber spekuliert, ob es wohl die Kriterien des „Wenderomans“ erfüllt. Zuletzt war das der Fall bei Lutz Seilers „Kruso“ (JF 42/14).

Doch welche Kriterien sind das überhaupt? Trotz zahlreicher Artikel und Aufsätze ist der Begriff bis heute unscharf, weshalb man ihn am besten in Anführungszeichen setzt. Das Wort „Wende“ hatte der neue SED-Chef Egon Krenz am 18. Oktober 1989 in Umlauf gebracht, in der Fernsehansprache, die er nach dem Honecker-Sturz an das Staatsvolk richtete. Vermutlich wollte er eine Analogie zur „Wende“ von Kanzler Helmut Schmidt zu Helmut Kohl 1982 herstellen und als normalen Vorgang erscheinen lassen, was der verzweifelte Versuch war, die System- und Staatskrise in den Griff zu bekommen. Das mißlang. In wenigen Wochen brachen die DDR und mit ihr das gesellschaftliche, ökonomische, soziale und kulturelle Gefüge zusammen.

Thomas Brussigs Groteske „Helden wie wir“ war das erste, jedenfalls erste erfolgreiche Werk, das zum „Wenderoman“ erhoben wurde. Die Hauptfigur ist ein sozialistischer Musterbube: verdruckst, beflissen, Stasi-affin und mit einem viel zu klein geratenen Penis ausgestattet. Der körperliche Makel ist mit dem Mauerfall behoben. Das Buch wurde ein gesamtdeutsches Ereignis, jedoch aus unterschiedlichen Gründen: Bei Lesern aus der Ex-DDR löste die Lektüre ein befreiendes Lachen über die abservierten bösen Geister aus. Für die Leser im Westen war sie ein Amüsement, das ihnen die Skurrilität der DDR und die Richtigkeit des eigenen Staatswesens bestätigte. Es war also richtig, von den DDR-Bürgern zu verlangen, ihre Verhaltens- und Denkmuster abzustreifen, sich anzupassen und im Westen „anzukommen“.

Wenn man den Mauerfall und die Wiedervereinigung in diesem Sinne verstand, waren sie tatsächlich nicht mehr als eine „Wende“ und die Frage aus dem Kirchenlied: „Wohin soll ich mich wenden, / Wenn Gram und Schmerz mich drücken? / Wem künd’ ich mein Entzücken, / Wenn freudig pocht mein Herz?“, klar beantwortet: Wende Dich an die Bundesrepublik! Der „Wenderoman“ war dann die epische Legitimationsurkunde, das Nationalepos der Bundesrepublik. Und wenn es von einem in der DDR sozialisierten Autor geschrieben wurde, war das um so besser!

Doch ein so verstandener „Wenderoman“ entspricht exakt der sozialistisch-realistischen „Ankunftsliteratur“, die in den frühen sechziger Jahren in der DDR in Mode kam. Das Strickmuster war simpel: Nach Irrtümern, Konflikten, Umwegen kommen die Figuren zur Einsicht in die Herrlichkeit des Sozialismus. Vielleicht erklärt sich der große Erfolg von Uwe Tellkamps „Der Turm“ (2008) gerade damit, daß er dieses Muster bedient. Der Roman schließt: „aber dann auf einmal (…) schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, ‘Deutschland einig Vaterland’, schlugen ans Brandenburger Tor:“ Der lange Umweg nach Westen führt ins Happy-End.

Man kann über die DDR keinen wirklichen „Wenderoman“ schreiben, wenn man die Bundesrepublik nicht mitdenkt. Christa Wolfs Roman „Der geteilte Himmel“ aus dem Jahr 1963 mag betulich, konventionell, parteifromm sein – bei seinem Erscheinen wurde das ganz anders empfunden –, aber wenigstens thematisiert er die deutsche Teilung und enthält Beobachtungen, die richtig und gültig bleiben: Der Himmel, der „sich zuerst (teilt)“, ist das „ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer“. Die Teilung bedeutet auch einen menschlichen Ausnahmezustand. Es sei „unnatürlich“, heißt es, die Sehnsucht nach den Landschaften hinter dem Eisernen Vorhang in sich auszulöschen. Es war eine lustige Idee Thomas Brussigs, Wolf als sentimentale Übermutter der DDR zu verspotten und den „Geteilten Himmel“ in den „geheilten Pimmel“ zu überführen, aber er verfehlte das Problem, um das es ging: die deutsche Frage.

Die bildete nach 1945 das Zentrum der internationalen Systemauseinandersetzung. Anna Seghers hat das in einer Erläuterung zu ihrem – verunglückten – Doppelroman „Die Entscheidung“ und „Das Vertrauen“ (1959/68), der die Entwicklung der DDR bis 1953 abhandelt, mit gebotener Deutlichkeit ausgesprochen: „Mir war die Hauptsache, zu zeigen, wie in unserer Zeit der Bruch, der die Welt in zwei Lager spaltet, auf alle, selbst auf die privatesten, selbst auf die intimsten Teile des Lebens einwirkt.“ Die Handlungsstränge reichen daher in die Bundesrepublik und sogar nach Übersee. Ähnlich verfuhr Uwe Johnson in seinen Romanen von den „Mutmaßungen über Jakob“ bis zu den „Jahrestagen“.

Es ließe sich einwenden, daß die Bundesrepublik und die DDR nicht gleichgewichtig waren. Der Westen war für den Osten ein Sehnsuchtsort, umgekehrt war kaum noch Interesse vorhanden. Auch das ist Folge und Erscheinung eines Ausnahmezustandes, den Sven Regener in seinem Roman „Herr Lehmann“ (2001) humorvoll auf den Punkt brachte. Er spielt kurz vor dem Mauerfall in West-Berlin, im Lebenskünstler-Milieu von Kreuzberg, dem Biotop im Biotop der geschichtlich stillgestellten Stadt. Weil man nichts verantworten muß, kann man die Pubertät ins Unendliche verlängern. Die Romanfiguren arbeiten, sie jobben nur, um Zeit zu haben für das Eigentliche und Große in ihnen, das vermeintlich auf Entfaltung drängt. Karl der Kellner ist gar keiner, er fertigt nach Feierabend Metallskulpturen an. Unmittelbar vor seiner ersten Ausstellung erleidet er einen Nervenzusammenbruch und zerstört seine Schöpfungen. In der Tiefe seines Herzens weiß er, daß sie nichts taugen und ihn der Lächerlichkeit preisgeben würden.

Die Tat ist natürlich symbolisch zu verstehen und wirft die Frage auf, welche geschichtliche und geistige Perspektive die Bundesrepublik der DDR eigentlich bot. In dieser Hinsicht enthält Christa Wolfs spröder Roman eine unwissentliche Prophetie. Als Rita, die Hauptfigur, ihren republikflüchtigen Freund in West-Berlin besucht, strickt seine Tante an einem schwarzen Trauerschal. „Sie hatte nichts weiter als die Trauer um die verstorbene Schwester, die mußte für lange Zeit reichen.“ Heute kann man das als Gleichnis auf die Exzesse der Vergangenheitsbewältigung lesen, die die geistig-moralischen Grundlage des vereinten Landes bildet.

Unter den „Wenderoman“-Projekten ist „Ein weites Feld“ (1995) von Günter Grass das ambitionierteste. Grass hatte richtig erkannt, daß dafür eine gesamtdeutsche Perspektive nötig war. Leider fielen ihm dazu nur vordergründige Fontane-Assoziationen und das Klischee vom mißgebürtlichen Deutschen Reich ein, das seine Auferstehung erlebe. Das DDR-Sujet im engeren Sinne dürfte mit Matthias Wegehaupts phantasievoller „Insel“ (2005), Tellkamps „Turm“ und Birk Meinhardts kunstgewerblichen „Brüder und Schwestern“ (JF 22/13) abgehandelt sein. In Eugen Ruges Epochen- und Familienroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ (2013) reicht die Handlung bis ins Jahr 2001. Allerdings überschreitet der Roman kaum die Binnenperspektive der DDR beziehungsweise Post-DDR.

Dem Wenderoman (ohne Anführungszeichen) am nächsten kommt „Land der Wunder“ (2005) von Michael Klonovsky. Es ist die Geschichte eines Unangepaßten, der bei einer DDR-Zeitung den Einbruch beziehungsweise „die Epiphanie des Westjournalismus“ erlebt und schnell erkennt, daß der Unterschied nur ein gradueller ist. Eine Uni-Schönheit, die Marxismus-Leninismus lehrt, sinkt nach 1989 zur Billig-Hure herab und steigt dann zur Domina im Sado-Maso-Studio auf, wo sie den zahlenden Genießern aus dem Westen den Hintern vermöbelt: Beginnt so ein deutsch-deutsches Katharsis-Wunder?

Ein gelingender Wenderoman müßte die Äquidistanz zur DDR und zur Bundesrepublik halten. Sein Fixpunkt wäre dann ganz einfach – Deutschland!

Thomas Brussig: Helden wie wir. Fischer-Taschenbuch, Frankfurt am Main, kartoniert, 336 Seiten, 8,95 Euro

Uwe Tellkamp: Der Turm. Suhrkamp, Berlin, kartoniert, 972 Seiten, 9,99 Euro

Michael Klonovsky: Land der Wunder. Kein & Aber, Zürich, gebunden, 542 Seiten, 22,80 Euro

Günter Grass: Ein weites Feld. Gerhard Steidl Verlag, Göttingen, gebunden, 748 Seiten, 24,50 Euro

Sven Regener: Herr Lehmann. Eichborn, Köln, gebunden, 300 Seiten, 19,99 Euro

Matthias Wegehaupt: Die Insel. List (Ullstein), Berlin, kartoniert, 1024 Seiten, 14,99 Euro

Foto: Mauer-Kennzeichnung am Berliner Hahneberg: Die Teilung bedeutete auch einen menschlichen Ausnahmezustand

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