© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Wendigkeit ist ihm nicht abzusprechen
Ikone der 68-Bewegung: Zum 85. Geburtstag des Schriftstellers und Essayisten Hans Magnus Enzensberger ist sein Erlebnisbericht „Tumult“ erschienen
Felix Dirsch

Der auf ihren verstorbenen Ehemann gemünzte, biographische Titel „Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben“ von Gretchen Dutschke trifft nicht nur auf den öfter verklärten Apo-Führer zu, sondern auch auf eine andere, wenn auch deutlich ältere Ikone der 68er-Bewegung: Kaum ein Halbstarker der fünfziger Jahre, der den angeblichen Mief der Adenauer-Restauration beseitigen wollte, hat die Republik so geprägt wie Hans Magnus Enzensberger. Wie viele gealterte Ex-Revolutionäre hat der aus dem schwäbischen Kaufbeuren stammende Schriftsteller im Laufe eines langen Lebens ihr Verhältnis zum Zentrum der Macht verändert. Findet er über dieses in der Gedichtsammlung „Verteidigung der Wölfe“ 1957 noch deutliche Worte des Zorns und der Unversöhnlichkeit, so ist er vor über zwei Jahrzehnten an der Seite von hochrangigen Repräsentanten des Staates wie dem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zu sehen.

1929 als Sohn eines Postbeamten geboren, ist Enzensberger in die „Verschwörung der Flakhelfer“ (Günter Maschke) involviert. Durch glückliche Umstände kann der Fünfzehnjährige den Gefechten an der „Heimatfront“ entgehen. Die Prägungen, die er in Krieg und Diktatur erfährt, bleiben dauerhaft maßgebend. Enzensbergers verspäteter Widerstand (wie der anderer kritischer Intellektueller seiner Generation) gegen die Tyrannei trifft die bundesrepublikanische Nichttyrannei, wie es der Philosoph Odo Marquard vor Jahren ironisch ausgedrückt hat.

Der Sohn aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und promovierte Germanist engagiert sich in der einflußreichen Gruppe 47. Auffallender als diese biographischen Details sind die vielen Reisen, die er in der Phase des Aufbaus zu unternehmen in der Lage ist. Nicht nur die Nachbarländer lernt er kennen. In Norwegen läßt er sich eine Zeitlang nieder und heiratet eine Einheimische. In den sechziger Jahren besucht er längere Zeit auch die von den Vietnam-Ereignissen gebeutelten USA und Kuba. Am Beispiel von Enzensbergers Vita läßt sich der Prozeß der kulturellen „Westernization“ jener Gegner des Establishments schön darstellen, für die sich einstweilen noch die Vereinigten Staaten nicht grundlegend von der deutschen Diktatur unterscheiden.

Kein Wort zu Ehrenburgs Haßreden

Es kommt zu einem einzigartigen Höhenflug. Die Verleihung des wichtigsten deutschen Schriftstellerpreises 1963, des Georg-Büchner-Preises, trägt wesentlich dazu bei. Es ergibt sich im selben Jahr sogar die Möglichkeit, an einer internationalen Schriftstellerdelegation teilzunehmen. Prominente Mitreisende in die Sowjetunion sind das Autorenpaar Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Enzensberger schildert seine Eindrücke ausführlich in seinem jüngsten Buch „Tumult“. Eine Ehre ist es für ihn, so eine aufschlußreiche Passage in diesen Memoiren, ausgerechnet von Ilja Ehrenburg eingeladen zu werden – kein Wort (auch im Postskriptum nicht) zu dessen aufwiegelnden Haßreden, die zu nicht wenigen Vergewaltigungen deutscher Frauen beigetragen haben dürften. Gastgeber Nikita Chruschtschow wird in seiner intellektuellen Schlichtheit wohl angemessen dargestellt.

Die Passagen über die Tour im „Paradies der Werktätigen“ sind nicht zuletzt aufgrund der geschilderten Schicksale lesenswert. Die Lyrikerin und Übersetzerin Margarita Aliger, mehrmals verheiratet, überlebt die Hungerperiode im eingeschlossenen Leningrad nur mit Mühe. Am Ende ihres leidvollen Lebens muß sie den Suizid beider Töchter verkraften, darunter den von Maria A. Makarowa („Mascha“), die Enzensberger nach der Scheidung von seiner ersten Frau Dagrun heiratete.

Die Ehe hält freilich nicht lange, hat doch der Gatte die psychische Erkrankung der Russin zuerst unbeachtet gelassen. Das Beziehungsgeflecht zwischen Tochter Tanaquil, Dagrun und Mascha erweist sich vor dem Hintergrund der Studentenrebellion als explosiv. Schließlich mischt noch der jüngste Bruder, Ulrich Enzensberger, als Kommunarde kräftig mit.

Interessant ist der Aufbau dieses Erinnerungswerks. Es ist im Frage-Antwort-Stil verfaßt. Der heutige Enzensberger befragt sein Alter ego von damals nach Motiven und Gründen für sein Handeln. So schlägt er einen erzählerischen Bogen von rund einem halben Jahrhundert.

Zum Tumult der sechziger Jahre gehört primär die Phase im Zentrum der Revolte in Berlin. Enzensberger wirft man später häufig vor, seine Rolle im nachhinein zu schönen. Sein Biograph Jörg Lau meint, Enzensberger „Katastrophengefühl, seine Zerstörungsangst, sein eingefleischter Widerwille gegenüber allem Kollektivistischen“ ließen ihn als „einen seltsamen Revolutionär erscheinen“. Lau: „Enzensbergers Texte aus den Jahren der Radikalisierung erwecken den Eindruck, hier versuche einer, sich selbst zur Revolution zu überreden – am Ende mit mäßigem Erfolg.“

Wissenschaftliche Stoffe poetisch verarbeitet

Zu den leisetreterischen Reformern gehört Enzensberger allerdings nicht, wenngleich er im Rückblick auf sein Desinteresse an allzu bizarr-ideologischen Wortgefechten verweisen kann. In den achtziger Jahren gilt er manchen Revoluzzern außer Dienst längst als Revolutionsverräter. Eine gewisse Wendigkeit im Umgang mit Ansichten und Meinungen ist ihm nicht abzusprechen.

Erwähnenswert von den Projekten aus dem unruhigen Jahrzehnt ist das bis heute existierende Kursbuch, aus dem sich der erste Herausgeber früh wieder zurückzieht. 1985 ruft er „Die Andere Bibliothek“ ins Leben. In dieser Reihe ediert er bis 2004 wertvolle Buchausgaben, zuerst bei Greno, dann im Eichborn-Verlag, darunter „Kosmos“ von Alexander von Humboldt.

Worin liegt die Besonderheit des enorm produktiven Autors, der nie die Popularität eines Walser oder Grass erreichen konnte? Es gelingt ihm als sehr gebildetem Autor unnachahmlich, wissenschaftliche Stoffe poetisch zu verarbeiten. Stellvertretend für andere Bücher sind „Die Elixiere der Wissenschaft“ zu nennen, erschienen 2004. Prominente Persönlichkeiten wie Kurt Gödel, Gottfried Wilhelm Leibniz, Carl von Linné und Charles Darwin, aber auch vergessene wie der Kunst- und Architekturhistoriker Sigfried Giedion werden samt Œuvre in Poesie übertragen. Deutlich wird beim Studium der Texte, wie sehr es dem Verfasser darum geht, Poesie und Wissenschaft als verschiedene Zugänge zur Wirklichkeit herauszustellen.

Fulminante Kritik an der bürokratischen EU

Von beinahe zeitloser Aktualität ist Enzensbergers Essayistik. 1993 publiziert er die „Aussichten auf den Bürgerkrieg“. Neben vielen Beobachtungen aus der Zeit der Wende ist immer noch von Interesse, wie der Verfasser die linken Gutmenschen aufs Korn nimmt. Die letzte Stufe der Rousseau-Rezeption finde demnach in der Sozialarbeit statt. Mit ein bißchen Psychotherapie werde auch das schlimmste Verbrechen noch akzeptabel. Fraglich sei lediglich, ob derartige Entschuldigungsrituale auch für die Taten von Höß und Mengele gelten. Am Ende der Erörterungen steht die Kritik einer universalistischen Ethik, die weltweit alle Probleme zu lösen versucht außer jene vor der eigenen Haustür.

Nicht zufällig wird in den letzten Monaten dieser Beitrag öfter als hellsichtig herausgestellt, vornehmlich mit Blick auf Syrien, die Ukraine und andere Brennpunkte. 1991 kommt es zu Diskussionen über Enzensbergers im Spiegel vorgenommener Parallelisierung von Saddam Hussein und Adolf Hitler, die die westliche Invasion zu rechtfertigen versucht.

Auch in den letzten Jahren erregt Enzensberger mehrmals die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Er veröffentlicht unter anderem „Hammerstein oder der Eigensinn“, die facettenreiche Geschichte der Familie Hammerstein (JF 12/08), weiterhin liefert er 2011 mit dem schmalen Essay „Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas“ eine um so fulminantere Kritik des bürokratischen EU-Ungetüms (JF 24/11).

Der aus einem katholischen Elternhaus stammende Literat hat sich – ohne christlich sein zu wollen – schon vor längerer Zeit den letzten Dingen geöffnet. In einem Gedicht („Gedankenflucht IV“) weist er auf die „kleine Pilgerin da / auf ihrer chaotischen Bahn, / dieses umherirrende, / glimmende Nichts (…)“ hin, die womöglich die „bis auf weiteres unsterbliche Seele“ suche. Dieser bislang eher untergeordnete Aspekt dürfte gegen Ende eines schaffensreichen Lebens wichtig werden. Enzensberger sei zwar ungläubig geblieben, meint sein Biograph Jörg Lau, aber gleichwohl fromm geworden, „schöpfungsfromm“. Es ist „Enzio“, der spätes Vaterglück erlebt und in München an der Seite seiner dritten Ehefrau Katharina den Lebensabend verbringt, zu wünschen, daß ihm die Lyrik helfen möge, seine eigene Endlichkeit zu bewältigen, wie es große Vertreter dieser Gattung zu allen Zeiten versucht haben.

Hans Magnus Enzensberger: Tumult. Suhrkamp, Berlin 2014, gebunden, 287 Seiten, 21,95 Euro

Foto: Hans Magnus Enzensberger (2013): Verspäteter Widerstand

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