© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Kalenderblätter einer friedlichen Revolution
DDR-Geschichte: Vera Lengsfeld bietet ihr ganz persönliches politisches Tagebuch des Jahres 1989
Detlef Kühn

Vera Lengsfeld, in jungen Jahren SED-Mitglied, dann Bürgerrechtlerin in der untergehenden DDR, später Bundestagsabgeordnete für die Grünen und die CDU, sorgt sich um die öffentliche Erinnerung an die vielen bekannten und vor allem unbekannten Akteure der friedlichen Revolution von 1989. Zuviel verschwindet bereits aus dem Gedächtnis oder muß – noch schlimmer – nostalgischen Gefühlen gegenüber dem SED-Staat weichen. Vera Lengsfeld hält mit diesem Buch dagegen.

Man möchte ihr Erfolg wünschen, zumal sie in der friedlichen Revolution „den Grundstein für ein freies, einiges und demokratisches Europa gelegt“ sehen möchte. Deshalb beschäftigt sie sich nicht nur mit dem Geschehen in der DDR, sondern richtet ihren Blick auf das Geschehen in anderen kommunistischen Staaten, insbesondere nach Polen, der Sowjetunion und sogar China. Die Ereignisse dort können jedoch allenfalls punktuell beleuchtet werden.

Als Aufhänger für ihre Darstellung des revolutionären Geschehens dienen Lengsfeld die 365 Tage des Kalenderjahres 1989. Jeder erhält einen eigenen Beitrag zugewiesen, auch wenn sich gerade nichts Wichtiges zugetragen hat, sondern die Geschichte nur Atem holt. Diese Fixierung auf Daten in einem sicherlich ereignisreichen Jahr ist problematisch; denn natürlich haben die revolutionären Ereignisse schon früher begonnen und waren auch mit dem 31. Dezember längst nicht beendet.

Lengsfeld muß also – um den angestrebten Bildungserfolg beim Leser zu erzielen – umfangreiche Ausflüge in die Vergangenheit und in Theorie und Praxis des Kommunismus unternehmen. Das Verfahren wirkt allerdings häufig verkrampft. Außerdem unterbricht es den Lauf der Dinge oft willkürlich und nimmt ihn erst Tage später wieder auf, wenn der Leser die früheren Ereignisse bereits vergessen hat. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn das Buch wenigstens als Nachschlagewerk in der politischen Bildung einsetzbar wäre. Dafür bedürfte es jedoch eines Sachregisters, das leider fehlt. Das vorhandene Personenregister ist kein ausreichender Ersatz.

Bei der gewählten Darstellungsmethode sind Redundanzen unvermeidlich. Dies wird besonders deutlich bei dem Thema Botschaftsflüchtlinge in Budapest und Prag. Immer wieder wird auf die unerträglichen sanitären Verhältnisse oder auf die an den Straßenrändern abgestellten Autos der Flüchtlinge hingewiesen, die ihre Flucht zu Fuß fortgesetzt haben. Die unbestreitbare Dramatik der Ereignisse wird betont; aus dem Buch ergibt sie sich allerdings nur unvollkommen.

Leider verzichtet Frau Lengsfeld bei ihren Mitteilungen fast völlig auf Quellenangaben, sondern begnügt sich mit sechs Hinweisen auf „weiterführende Literatur“, auf die sie sich wohl auch selbst gestützt hat. Beliebt ist bei ihr auch Walter Kempowski, aus dessen Tagebuch 1989 („Alkor“) sie – selbstverständlich mit Genehmigung des Verlages – häufig zitiert. Ansonsten zitiert sie meist in knappen Zitaten aus dem Neuen Deutschland und Bild, bei deren Berichterstattung sie oft etwas auszusetzen findet – meist zu Recht, aber jedenfalls nicht wirklich überraschend.

Arroganz und Unkenntnis beim Ständigen Vertreter

Auch sonst ist die Autorin recht meinungsfreudig und kritisiert herb, wenn die Politik oder die veröffentlichte Meinung in der Bundesrepublik auf bestimmte Ereignisse nicht so reagieren, wie sie es gern gesehen hätte. Dabei ist sie manchmal ungerecht; denn sie weiß heute natürlich, wie alles ausgegangen ist. Damals war das aber für die Beobachter und Beteiligten meist nicht so klar.

Klar und deutlich und auch berechtigt kritisiert sie jedoch unter dem 15. September einen „bundesdeutschen Staatssekretär,“ der eine Veranstaltung des Neuen Forums besucht hatte und in seiner anschließenden „Depesche an das Bundeskanzleramt“ eine erschreckende Arroganz und Unkenntnis der real existierenden Möglichkeiten Oppositioneller in der DDR an den Tag legte. Die sonst so mutige Frau Lengsfeld schont den Herrn, indem sie seinen Namen verschweigt. Es gab damals aber nur einen Staatssekretär, der Depeschen aus Ost-Berlin an das Bundeskanzleramt richten konnte: allerdings fand 1989 ein Wechsel des Leiters der Ständigen Vertretung statt. Eine hübsche Aufgabe für Schüler im politischen Unterricht, herauszufinden, ob nun Hans Otto Bräutigam oder Franz Bertele gemeint ist. Vera Lengsfelds Buch ist gut gemeint, aber das ist – wie schon der Volksmund weiß – leider das Gegenteil von gut.

 

Detlef Kühn war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts.

Vera Lengsfeld: 1989 – Tagebuch der Friedlichen Revolution, 1. Januar bis 31. Dezember. TvR Medienverlag, Jena 2014, gebunden, 287 Seiten, 19,90 Euro

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