© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Manchmal singen Max und Gunter
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein: Wo Rolf und Gitti Besuch empfangen und Molle und Korn zu Hause sind / Die Stammkneipe – öffentliches Wohnzimmer, Ort freier Rede und frauenbeauftragtenfreie Zone
Ronald Berthold

Eigentlich wollte ich gerade meine Jacke über die Schulter werfen und mich aufmachen in meine Stammkneipe. Wie habe ich mich schon auf meine Molle und meinen Korn gefreut – und auf die Plauderei mit meinen Thekenbrüdern. Molle und Korn – so nennen wir hier in Berlin das Herrengedeck aus Bier und Schnaps, bei dem man jede Menge Unsinn erzählen darf, ohne daß ein Wächter der Politischen Korrektheit einem den Mund verbietet.

Doch aus all dem wird nichts. Das Telefon klingelt, der JF-Redakteur ist in der Leitung und klagt das alte Journalistenleid. Gerade sei ihm ein Text weggebrochen, und er bräuchte dringend einen neuen Aufmacher für die letzte Seite. In wenigen Stunden sei schon Redaktionsschluß. Ob ich noch schnell helfen könne?

Na klar kann ich helfen, als alter Hase der Zunft. Ob ich dann wenigstens über meine illustren Kneipenerlebnisse schreiben dürfte, wenn ich schon aus dienstlichen Gründen nicht hindarf? Der Kollege hat ein Herz. Wir beide sind schnell einig, und so darf ich endlich einmal in aller Öffentlichkeit mein Lobeslied auf die gute alte Stammkneipe anstimmen.

Jeder kennt jeden und jeder mag auch jeden

Los geht’s. Kennen Sie das auch? Die Ehefrau ist mit ihrer Freundin im Kino, die Kinder treffen sich mit ihren Klassenkameraden, und Sie sollen als Strohwitwer das Haus hüten? Also, mit mir nicht! Bevor ich mir die zwanzigste Wiederholung des Rosamunde-Pilcher-Dramas im Staatsfernsehen reinziehe, gehe ich runter in mein Stammlokal. Dort sitzen eigentlich immer Wulf, Thomas und Dirk. Und wenn die nicht da sind, dann hocken gerade Rolf und Wilhelm beim Bier. Dazusetzen ist nicht nur erlaubt, sondern dringend erwünscht.

Und weil Gitti, die Wirtin, ein echter Kumpel ist, dürfen wir uns sogar eine Kippe anstecken. Themen finden wir immer. Ob die Kinder gerade eine Eins geschrieben haben, der Flughafen immer noch nicht fertig ist oder Hertha nach dem Pokal-Aus in Bielefeld nun auch noch gegen Paderborn verloren hat – hier gibt es keinen, der nicht mitreden kann.

Es ist ein Ort, an dem sich jeder heimisch fühlt, an dem man sich nicht erklären muß. Die Stammkneipe ist eine Art Zuhause – und sie ist klassenlos. In meiner Stampe am Savignyplatz schauen nicht nur Tüten-Paula und Atze Ohr von der Möckernbrücke vorbei. Nein, auch Max Raabe, Katharina Thalbach und Gunter Gabriel mischen sich regelmäßig unters Volk. Und manchmal singen sie auch. Gunter hat fast immer seine Gitarre dabei, und Kathi braucht nach der ersten Flasche Wein wirklich kein Instrument mehr, um ihre Lieblingslieder vorzutragen. Vom Klo höre ich manchmal die melodische Stimme Max Raabes. Die von Gunter ist nach seinem Schlaganfall leider seltener zu vernehmen.

Mittendrin sitzt Lord Knut, die alte Berliner Rias-Legende. Markenzeichen: herzhaftes, ohrenbetäubendes Lachen. Seine Zeitung blättert er so breit auf, daß die darunterstehende Kerze das Papier entzündet. Erst als die Morgenpost fast schon lichterloh in Flammen steht, bemerkt er das Ungemach. Gitti löscht blitzschnell mit der frisch gezapften Molle. Nach dem ersten Schreck brechen alle in schallendes Gelächter aus. Jeder kennt jeden, und natürlich mag auch jeder jeden.

Am Stammtisch gibt es literweise Sachverstand

Leider sterben diese urigen Kneipen aus, auch wenn meine immer brechend voll ist. Und irgendwie mache ich mich ja schon fast verdächtig, in solchen Läden zu verkehren. Der Stammtisch ist schließlich bei unserer politischen Kaste zum Synonym für primitive politische Forderungen verkommen. Dabei bin ich immer wieder erstaunt, wie gut sich die meisten auskennen, wie sie Sachverhalte einordnen und werten können. Und das auch noch nach dem sechsten Bier. Natürlich erzählt auch mal jemand einen unanständigen Witz. Und – auweia – alle lachen. Stammkneipe ist eben nichts für Gender-Tussis. Und Gott sei Dank hat sich auch noch keine in mein Lieblingslokal verirrt. Hier soll alles bleiben, wie es ist.

Und das tut es auch. Seit einem gefühlten halben Jahrhundert hat hier niemand mehr renoviert, und der Wasserhahn auf der Toilette tropft auch schon seit 2008. Mir gefällt’s trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen.

So, jetzt muß ich aber wirklich Schluß machen. Wulf, Thomas und Dirk warten. Und natürlich auch Molle und Korn. Prost! Auf die Eckkneipe!

Foto: Urige Gemütlichkeit im zweiten Zuhause: Mit liebenswerten Zeitgenossen die Seele baumeln lassen

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