© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

„Ich hatte unrecht“
Linksruck hin, Entspannungspolitik her: Nicht jeder im Westen hatte die Wiedervereinigung abgeschrieben
Karlheinz Weissmann

Die Mauer war in meiner Kindheit eigentlich nur abstrakt vorhanden. Das galt trotz der relativen Nähe der „innerdeutschen“ Grenze zum Wohnort. Kleine Leute reisten kaum, wer keine Verwandten auf der anderen Seite hatte, kam mit den Realitäten der Teilung selten in unmittelbare Berührung. Die mittelbare war hingegen unvermeidbar, schon wegen der Präsenz der Bilder, des grau-weißen Monstrums, des Todesstreifens, der Wachtürme, des Stacheldrahts, der Bewaffneten, des Aufmarschs am Morgen des 13. August 1961, des tollkühnen Sprungs über die provisorische Demarkation hinweg, derjenigen, die sich in einem Verzweiflungsakt aus den Fenstern der Häuser direkt an der Sektorengrenze fallen ließen.

Die Bilder waren allgegenwärtig in Zeitungen, den Illustrierten, den Broschüren, die zum 17. Juni, dem Tag der deutschen Einheit, verteilt wurden, in den Schulbüchern oder im Fernsehen, das gerade seinen Siegeszug antrat. Auch die Beurteilung war nicht zweifelhaft. Zwar gab es keine großen Demonstrationen mehr wie zu Beginn der sechziger Jahre oder Sprengstoffanschläge auf die Mauer, und die Zahl spektakulärer Fluchtaktionen schrumpfte, aber noch hielten sich die Einstellungen bei Eltern, Lehrern und sonstigen Autoritätspersonen, die die Einheit als Norm, die Spaltung als Anomalie und die Mauer als Skandal betrachteten; die Umrisse der Wetterkarte zeigten das ganze Deutschland, die DDR erschien in Gänsefüßchen, und wenn man „Päckchen für drüben“ packte, war das Wissen um den Mangel an Perlonhemden und Nylonstrümpfen in der „Zone“ Nahrung für das eigene kollektive Überlegenheitsgefühl und den Willen, den „Brüdern und Schwestern im Osten“ zu helfen.

Erst mit fünfzehn Jahren habe ich die Mauer tatsächlich gesehen, bei einer der obligatorischen, politisch bildenden (und von den Teilnehmern regelmäßig zweckentfremdeten) Klassenfahrten nach Berlin. Da hatte sich die Atmosphäre schon deutlich verändert, waren die Haare länger, die Gesinnungen linker. Die Stunde politische Bildung zum Thema Teilung im „Deutschlandhaus“ absolvierten die meisten Mitschüler mißmutig oder aufsässig, jedenfalls desinteressiert oder bereit, den Funktionär, der vorne stand, mit einem kleinen „Systemvergleich“ – der immer zugunsten der DDR endete – aus dem Konzept zu bringen.

Wer jetzt noch an der Wiedervereinigung festhielt, war entweder älter, persönlich interessiert oder naiv. Immerhin ermöglichte Naivität aufschlußreiche Erfahrungen: etwa die eines in Hysterie ausbrechenden Kirchenkreises, der voller Entsetzen feststellte, daß eine Jugendgruppe im Sommer 1981 zum 20. Jahrestag des Mauerbaus einen Gedenkgottesdienst für dessen Opfer plante. Der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und die Verurteilung des Dissidenten Andrej Sacharow hatten den Gemeindenachwuchs verstört, ergänzt um die Vorstellung, daß, wer gegen Apartheid oder das Militärregime in Chile auftrat, auch für die Menschenrechte im Ostblock einstehen müßte, und daß, wer für die Selbstbestimmung aller möglichen Völker in der Dritten Welt war, dem eigenen Volk dieses Recht schlecht verweigern konnte. Wirksamkeit ließ sich so selbstverständlich nicht entfalten, die Boykottmechanismen waren eingespielt, der innerkirchliche Konsens stand, wenn es gegen „Antikommunisten“, „Deutschnationale“ und andere „Entspannungsgegner“ ging.

Aber die Initiatoren hatten doch eine wichtige Lektion gelernt, im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit des neuen Konsenses, den die Achtundsechziger gerade etablierten, was es also damit auf sich hatte, wenn von Herrschaftsfreiheit, Kritikfähigkeit und offener Diskussion gesprochen wurde.

Wem diese Einsicht nicht genügte, der begriff allerdings auch, daß ein Zurück in die gute alte Zeit des Kalten Krieges nicht nur unwahrscheinlich war, sondern auch gar keine Perspektive auf die Überwindung der Teilung bot. Für die Nachwachsenden stellte die Einheit zu dem Zeitpunkt längst keine Erfahrungstatsache mehr dar, die Entfremdung gegenüber der eigenen Geschichte wie der eigenen Nation hatte ein dramatisches Ausmaß erreicht, die Vorstellung, daß die DDR „Ausland“ sei, griff um sich, aus Gründen der Bequemlichkeit genauso wie aus ideologischen Motiven. Aber es gab selbstverständlich Abweichler. Wider Erwarten und unklar konturiert entstand damals eine Szene, die den antipatriotischen Trott verweigerte: Linksnationale und „neue Rechte“, Nonkonformisten – von grünen Außenseitern bis zu Nationalrevolutionären –, konsequente Friedensfreunde und unerwartete Zugänge aus der nationalen Dissidenz der DDR (etwa Wolfgang Seiffert und Hermann von Berg) wie des westdeutschen Establishments (etwa Günter Kießling oder Bernard Willms).

Der kleinste gemeinsame Nenner dieser einzelnen und Gruppen war die Vorstellung, daß sich die Einheit nur schrittweise und nur bei Anerkennung der Neutralität eines wiedervereinigten Deutschlands erreichen lasse. Für eine „Bewegung“ reichte das nicht, aber immerhin für interessante Querverbindungen, Seminarbetrieb, Treffen, die Gründung einer Zeitung, ein breites Feld der Subversion und der Nadelstichtaktik und eine Generalrichtung, die insofern zukunftweisend war, als sie sich nicht mehr an den Lagern der alten Bundesrepublik orientierte, sondern ein neues nationales Selbstbewußtsein zum Ausgangspunkt aller politischen Entscheidungen machen wollte.

Das letzte Mal, daß ich die Mauer sah, bevor alles anders wurde, war am 7. Oktober 1989. Ich sollte einen Vortrag in West-Berlin halten und mußte die Transitstrecke nutzen. Der Verkehr war selbst für DDR-Verhältnisse dünn, was damit zusammenhing, daß man die Feiern zum „Tag der Republik“ abhielt. Der Rundfunk Ost berichtete über den planmäßigen Ablauf der letzten großen Propagandaschau, der Rundfunk West über die umfassenden Sicherungsmaßnahmen, weil das Regime Sorge hatte, es könnte zu Protesten der erstarkten Opposition kommen. Als ich nachts den Rückweg antrat und den Übergang erreichte, ließen die Grenzer mich einige Zeit warten, obwohl weit und breit kein anderes Fahrzeug zu sehen war.

Schließlich näherte sich ein Beamter, ich kurbelte die Scheibe herunter und dann kam mit unbewegter Miene: „Se ham nich abgeblendet! Standlicht, junger Mann!“ Erschrocken schaltete ich die Scheinwerfer herunter, während der Beamte den Wagen umrundete. An der Rückseite blieb er länger stehen und musterte die Aufkleber, die das Heck zierten, einer mit den Wappen von Bundesrepublik und DDR samt Schriftzug „Perspektive Deutscher Staatenbund“, einer mit der Friedenstaube und Schwarz-Rot-Gold und „Frieden schaffen – Deutschland vereinigen“.

Auf alles Mögliche gefaßt, wartete ich, bis der Grenzer wieder an der Fahrertür auftauchte. Der reichte mir aber nur die Papiere mit einem „So, so“, nickte und gab den Weg frei. Es kam darin eine gewisse Resignation zum Ausdruck, ein Ergebnis jener Verunsicherung, die die Mächtigen der DDR wie des Ostblocks überhaupt seit dem Sommer 1989 erfaßt hatte und die sich in der nachlassenden Lust an der Schikane wie an der wachsenden Aufsässigkeit der Untertanen äußerte. Wer schon so lange auf den Kollaps des Ostblocks gehofft hatte, sah das mit einer Mischung aus Erstaunen und Erwartung.

Trotzdem kamen Grenzöffnung und Mauerfall überraschend. Die Begeisterung angesichts dessen, was dann geschah, überdeckte sogar, daß die, die so zäh am Gedanken der Einheit festgehalten hatten, nun keineswegs triumphieren durften oder wenigstens den verdienten Lohn für ihre Standfestigkeit erhielten. Das hat den einen oder anderen bitter werden lassen, ob der Undankbarkeit der Geschichte, aber es gab auch die Gelassenheit eines Armin Mohler, der dem „Kanzler der Einheit“ Respekt zollte, weil dieser das Notwendige tat und die Besserwisser wie die vaterlandslosen Gesellen beiseite schob.

Als im Herbst 1990 die Wiedervereinigung Deutschlands vollzogen wurde, war nur noch ein Rest jener Euphorie zu spüren, die uns im Herbst 1989 erfaßt hatte. Aber die Erinnerungen an diesen historischen Moment bleiben, mitsamt der persönlichen Färbung, die sie annehmen, und dem Kontrast zu dem, was im großen Rahmen geschah.

Für mich gehört vor allem die Fahrt dazu, die ich mit meinen Schülern an den Grenzübergang vor den Toren meines Dienstortes Wolfenbüttel machte. Wir verteilten uns in einer riesigen Menschenmenge, während sich in sehr langsamem Tempo die Kolonne der Trabants vorbeischob, gelegentlich unterbrochen durch einen Wartburg oder einen importierten West-Golf, links und rechts flankiert von klatschenden, jubelnden, lachenden, weinenden Landsleuten, die den Wagen zur Begrüßung sanfter oder heftiger aufs Dach klopften. Irgendwann machte ich auf der Gegenseite einen jungen Mann aus, Abiturient des vorigen Jahrgangs, einer, mit dem es oft und heftige Debatten gegeben hatte, nicht zuletzt über die Deutsche Frage. Er sah herüber, nickte mir kurz zu, wendete den Blick, besann sich, paßte eine Lücke zwischen zwei Fahrzeugen ab, lief hindurch, kam auf meine Höhe und bot mir die Hand: „Sie hatten recht, und ich hatte unrecht.“

Fotos: Jubelnde Menschen bei der Grenzöffnung zwischen Plauen und Hof: Den Landsleuten aufs Dach klopfen; Hinweistafel „Auch drüben ist Deutschland“ an der Zonengrenze bei Lübeck: Perspektiven zur Überwindung der Teilung

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