© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Chronik 1989

19. Januar 1989

SED-Generalsekretär Erich Honecker erklärt, daß die Mauer so lange stehen bleiben werde, „wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Sie wird in fünfzig und auch in hundert Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt sind.“

 

5. Februar 1989

Der 20jährige Berliner Chris Gueffroy wird bei einem Fluchtversuch über den Teltowkanal von einem DDR-Grenzsoldaten erschossen. Der 21jährige Christian Gaudian wird dabei schwer verletzt und am 24. Mai wegen „versuchten ungesetzlichen Grenz-übertritts im schweren Fall“ zu drei Jahren Haft verurteilt. Chris Gueffroy wird am 23. Februar unter großer Anteilnahme beigesetzt, obwohl die DDR-Behörden seinen Tod zu vertu-schen versuchen. Trotz Stasi-Kontrollen können West-Korrespondenten an der Beerdigung teilnehmen und darüber berichten.

 

3. April 1989

Der Minister für Nationale Verteidigung der DDR, Fritz Streletz, setzt durch „mündliche Beauflagung“ den Schießbefehl an der Staatsgrenze aus – wegen des geplanten Besuchs des französischen Präsidenten François Mitterrand: „Lieber einen Menschen abhauen lassen, als in der jetzigen politischen Situation die Schußwaffe anzuwenden.“ (Honecker)

 

18. April 1989

Geheimer erster Probe-Abbruch des „Eisernen Vorhangs“ durch ungarische Grenzsoldaten in der Nähe des Grenzortes Ragendorf (Rajka) im Dreiländereck Österreich-Tschechoslowakei-Ungarn.

 

2. Mai 1989

Der ungarische Grenztruppen-Oberst Balázs Nováky gibt auf einer Pressekonferenz in der Grenzgemeinde Straßsommerein (Hegyeshalom) den Abbruch des „Eisernen Vorhangs“ Richtung Österreich offiziell bekannt. Die Nachricht kommt über ARD und ZDF auch in der DDR an.

 

7. Mai 1989

Kommunalwahlen in der DDR: Offiziell haben 98,85 Prozent der Wähler die Kandidaten der „Nationalen Front“ gewählt. Oppositionelle Gruppen, deren Mitglieder an der Stimmenauszählung teilnahmen, können Wahlfälschungen belegen.

 

25. Mai 1989

Das rot-grün regierte Berlin (West) stellt seine Zahlungen an die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter ein, deren Aufgabe laut Gesetz es ist, die in der DDR begangenen „Gewaltakte festzuhalten und dafür Sorge zu tragen, daß sie zu gegebener Zeit gesühnt werden können“. Bereits ein Jahr zuvor hatten die SPD-regierten Länder Bremen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen sowie das Saarland ihre finanzielle Beteiligung eingestellt, im Januar 1989 folgte Schleswig-Holstein diesem Beispiel. Die SPD-Bundestagsfraktion hatte 1984 die Behörde als „wirkungslos und überflüssig“ bezeichnet. Die Vizepräsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses, Hilde Schramm (Alternative Liste), weigert sich, die Mahnworte zu sprechen, mit denen seit 1955 der „unbeugsame Wille“ des Hohen Hauses bekundet wird, daß „Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin in Frieden und Freiheit wiedervereinigt werden muß.“

 

29. Mai 1989

Auf Einladung der SPD-Bundestagsfraktion besucht eine Delegation der DDR-Volkskammer die Bundesrepublik.

 

8. Juni 1989

Die Volkskammer bezeichnet das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking als „Niederschlagung einer Konterrevolution“ in China. Auf einer deutsch-deutschen Konferenz in Saarbrücken, an der auch Oskar Lafontaine (SPD) teilnimmt, betont Egon Krenz (SED), daß „Träumereien“ von der „sogenannten Wiedervereinigung“ das Mißtrauen zwischen den europäischen Völkern weckten.

 

12. Juni 1989

Der niedersächsische Oppositionsführer Gerhard Schröder (SPD) in der „Bild“-Zeitung: „Nach 40 Jahren Bundesrepublik sollte man eine neue Generation in Deutschland nicht über die Chancen einer Wiedervereinigung belügen. Es gibt sie nicht. Und es gibt wichtigere Fragen der deutschen Politik in Europa.“

 

13. Juni 1989

Helmut Kohl und Michail Gorbatschow unterzeichnen eine Gemeinsame Erklärung, die unter anderem das „Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten“, betont.

 

27. Juni 1989

Die Außenminister Alois Mock (Österreich) und Gyula Horn (Ungarn) zerschneiden vor den Augen der Weltpresse den „Eisernen Vorhang“ bei Kroisbach (Fertörákos). Seit Januar ist bereits über 7.000 DDR-Bürgern die Flucht in den Westen gelungen. Insgesamt 37.000 dürfen offiziell ausreisen.

 

31. Juli 1989

In den östlichen Botschaften der Bundesrepublik haben über 150 DDR-Bürger Zuflucht gesucht. Sie hoffen auf eine Ausreise in den Westen. 2.144 DDR-Bürgern gelingt im Juli die Flucht.

 

8. August 1989

Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin, in der etwa 130 DDR-Bürger Zuflucht suchen, wird wegen Überfüllung geschlossen.

 

14. August 1989

Schließung der Botschaft in Budapest, in der sich 171 DDR-Bürger aufhalten.

 

19. August 1989

„Paneuropäisches Picknick“ an der österreichisch-ungarischen Grenze unter Schirmherrschaft von Ungarns Staatsminister Imre Poszgay und Paneuropa-Chef Otto von Habsburg. Über 600 DDR-Bürgern die Flucht.

 

21. August 1989

Bei einem Handgemenge mit ungarischen Grenzsoldaten stirbt Kurt-Werner Schulz aus Weimar. Er ist der letzte DDR-Bürger, der bei einem Fluchtversuch erschossen wird.

 

23. August 1989

Hunderttausende Esten, Letten und Litauer demonstrieren mit einer Menschenkette in den baltischen Sowjetrepubliken für die Unabhängigkeit. Vier Monate später erklärt dann der Oberste Sowjet in Moskau die geheimen Zusatzprotokolle zum Molotow-Ribbentrop-Pakt für „juristisch unbegründet und ungültig“.

 

25. August 1989

Der ungarische Ministerpräsident Miklos Németh erklärt bei einem informellen Besuch in Bonn: „Herr Bundeskanzler, Ungarn hat sich entschieden, den DDR-Bürgern die freie Ausreise zu erlauben.“ Die DDR-Führung wird erst am 31. August vom ungarischen Außenminister Gyula Horn in Ost-Berlin offiziell darüber informiert.

 

10. September 1989

Die ungarische Regierung verkündet um 19 Uhr im Fernsehen, daß ab dem 11. September die Grenze zu Österreich für DDR-Bürger offen steht. Um Mitternacht wird die ungarische Westgrenze endgültig geöffnet.

 

11. September 1989

Der Vorsitzende des SPD-Parteirats, Norbert Gansel, fordert in einer aufsehenerregenden Stellungnahme ein deutschlandpolitisches Umsteuern seiner Partei: Das bisher propagierte Konzept des „Wandels durch Annäherung“ müsse durch das des „Wandels durch Abstand“ ersetzt werden. Das DDR-Innenministerium lehnt die Zulassung des Neuen Forums ab.

 

12. September 1989

Auf Beschluß des SED-Politbüros werden Anträge für die visafreie Reise nach Ungarn, Bulgarien und Rumänien nicht mehr von der Volkspolizei, sondern zentral von der Stasi überprüft. Tausende DDR-Bürger drängen sich in den provisorischen Aufnahmelagern in Bayern.

 

15. September 1989

Drei neue Oppositionsvereinigungen entstehen, darunter der Demokratische Aufbruch (DA).

 

27. September 1989

Eine auf Wiedervereinigung gerichtete Politik ist „reaktionär und hochgradig gefährlich“ (Gerhard Schröder in der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“). Eine Woche zuvor mußte die bundesdeutsche Botschaft in Warschau wegen Überfüllung geschlossen werden. Die dortigen DDR-Bürger dürfen dennoch nicht ausreisen.

 

30. September 1989

Außenminister Hans-Dietrich Genscher verkündet vom Balkon der Prager Botschaft die Ausreiseerlaubnis für die dortigen DDR-Bürger. In verriegelten Sonderzügen gelangen sie am 1. Oktober über das Territorium der DDR nach Hof in Bayern. Die Züge mit den Warschauer Flüchtlingen werden über Helmstedt nach Niedersachsen geleitet.

 

1. Oktober 1989

Die staatliche DDR-Nachrichtenagentur ADN kommentiert die Fluchtwelle: „Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.“ Etwa 21.000 DDR-Bürgern war im September über Ungarn die Flucht in den Westen gelungen.

 

2. Oktober 1989

20.000 Menschen demonstrieren in Leipzig für politische Reformen. Sie rufen „Wir sind das Volk!“ und „Wir bleiben hier!“ Die Einsatzkräfte gehen brutal vor, es gibt zahlreiche Verletzte und Festgenommene. Drei Tage später fordern Tausende Demonstranten in Plauen bei einer Kundgebung auf Plakaten unter anderem „Reisefreiheit – Meinungsfreiheit – Pressefreiheit“.

 

3. Oktober 1989

Die DDR setzt den visafreien Reiseverkehr mit der Tschechoslowakei aus, nachdem wieder Tausende in die Prager Botschaft geflüchtet sind. Reisen nach Polen sind schon seit 1981 nur mit Reisegruppe, Genehmigung oder Privateinladung möglich.

 

4. Oktober 1989

7.500 DDR-Flüchtlinge aus der bundesdeutschen Botschaft in Prag werden erneut mit Sonderzügen über DDR-Gebiet in die Bundesrepublik gebracht. Entlang der Strecke in Sachsen kommt es zu spontanen Unruhen, manche wollen auf die Züge aufspringen. Volkspolizei und Stasi greifen hart durch. Es kommt zu zahlreichen Verhaftungen.

 

7. Oktober 1989

40. Jahrestag der DDR-Gründung. Die Sicherheitskräfte gehen brutal gegen Demonstranten in Berlin (Ost) vor, die gegen die offiziellen Feierlichkeiten protestieren. Es kommt zu Massenverhaftungen und Mißhandlungen von Inhaftierten. Gründung der Sozialdemokratischen Partei (SDP). Zwei Tage später gehen in Leipzig 70.000 Demonstranten gegen die SED auf die Straße; der Tag gilt seitdem als „Oktoberrevolution der DDR“.

 

18. Oktober 1989

Erich Honecker wird „aus gesundheitlichen Gründen“ von seinem Amt als Generalsekretär entbunden. Das Zentralkomitee wählt Egon Krenz als Nachfolger. Krenz benutzt erstmals den Begriff „Wende“ für seine politischen Pläne.

 

23. Oktober 1989

Montagsdemonstration mit 300.000 Teilnehmern in Leipzig, Zehntausende in Magdeburg, Dresden, Schwerin, Zwickau, Halle, Stralsund und Berlin sowie bereits an den Vortagen in Plauen und Rostock.

 

30. Oktober 1989

Treffen von Krenz und Gorbatschow in Moskau: Die deutsche Wiedervereinigung „steht nicht auf der Tagesordnung“. Drei Tage zuvor hatte der neue DDR-Staatsrat eine Amnestie für alle Republikflüchtlinge und bei anderen politischen Straftaten verkündet.

 

4. November 1989

Nachdem DDR-Bürger wieder visafrei in die CSSR reisen dürfen, können sie über diesen Umweg ungehindert nach Bayern fahren – an den Grenzübergängen bilden sich kilometerlange Schlangen. In Ost-Berlin demonstrieren eine halbe Million auf dem Alexanderplatz für freie Wahlen, Presse- und Meinungsfreiheit.

 

9. November 1989

Beschluß und Verkündung eines neuen Reisegesetzes durch Partei- und Staatsführung; Öffnung der innerdeutschen Grenze für DDR-Bürger. Politbüro-Mitglied Günter Schabowski antwortet während der Pressekonferenz auf die Frage nach dem Inkrafttreten: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“

 

12. November 1989

DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler verkündet offiziell die Aufhebung des „Gebrauchs oder Einsatzes von Schußwaffen“ an der Grenze und den freien Zugang zu allen Sperrgebieten an der Berliner Mauer bzw. der innerdeutschen Grenze.

 

17. November 1989

Der neu gewählte Ministerratsvorsitzende Hans Modrow schlägt der Bundesregierung eine „Vertragsgemeinschaft“ zwischen DDR und Bundesrepublik vor.

 

28. November 1989

Bundeskanzler Helmut Kohl stellt im Bundestag seinen Zehn-Punkte-Plan vor: Darin heißt es, ein Zusammenwachsen beider Staaten „liegt in der Kontinuität deutscher Geschichte. … Wie ein wiedervereinigtes Deutschland aussehen wird, weiß heute niemand. Daß aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen sie wollen – dessen bin ich mir sicher.“

 

1. Dezember 1989

Die Volkskammer streicht die „führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ aus der Verfassung der DDR. Zwei Tage später treten ZK und Politbüro der SED zurück. Krenz verliert sein Amt als Parteichef. Honecker, Mielke, Horst Sindermann und Willi Stoph werden aus der Partei ausgeschlossen.

 

8. Dezember 1989

Ein Sonderparteitag lehnt die Selbstauflösung der SED ab und wählt Gregor Gysi zum Vorsitzenden. Er fordert die „Neuformierung einer modernen sozialistischen Partei von unten“. Eine Woche später benennt sich die Partei in SED/PDS um.

 

10. Dezember 1989

In einem Telefonat mit Gysi bringt der Generalsekretär der KpdSU Michail Gorbatschow seine Mißbilligung von Kohls Zehn-Punkte-Plan zum Ausdruck: Jeder Versuch des Westens, die Souveränität der DDR einzuschränken, werde von der Sowjetunion zurückgewiesen. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine will die Übersiedlung aus der DDR rechtlich einschränken: „Das Übersiedeln soll nur stattfinden, wenn die Frage des Arbeitsplatzes und der Wohnungsnot geklärt ist.“

 

11. Dezember 1989

300.000 Menschen demonstrieren in Leipzig. Viele haben schwarzrotgoldene Fahnen dabei und skandieren „Deutschland, Deutschland“. Einer Umfrage der Leipziger Volkszeitung zufolge sprechen sich drei Viertel der Bewohner der Stadt für die Wiedervereinigung aus.

 

17. Dezember 1989

Die Regierung Modrow kündigt an, das Amt für Nationale Sicherheit (Nachfolger der Stasi) aufzulösen.

 

18. Dezember 1989

Der „Runde Tisch“ spricht sich für eine „Vertragsgemeinschaft“ von DDR und Bundesrepublik aus. „Berliner Erklärung“ der SPD: „Wir wollen nicht zurück in das Zeitalter der Nationalstaaten ...“ Die „Frage der Nation bleibt den Erfordernissen des Friedens untergeordnet“.

 

19. Dezember 1989

Gipfeltreffen von Kohl und Modrow. Dieser lehnt Kohls Zehn-Punkte-Plan ab und besteht auf einer Eigenstaatlichkeit der DDR. Abends spricht der Kanzler an der Ruine der Frauenkirche vor Zehntausenden Menschen: „Mein Ziel ist und bleibt – wenn die geschichtliche Stunde es zuläßt – die Einheit unserer Nation.“

 

22. Dezember 1989

Das Brandenburger Tor ist nach 28 Jahren wieder offen. In den Wochen seit Öffnung der Mauer am 9. November besuchten über neun Millionen DDR-Bürger West-Berlin und die Bundesrepublik.

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