© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Gefangen und freigetauscht
Ein junger Mann aus dem Westen wird bei der Fluchthilfe in der DDR erwischt
Matthias Bath

Anfang 1976 wurde ich von einem Funktionär der Jungen Union angesprochen, ob ich ihn bei Fluchthilfeaktionen für Leute aus der DDR unterstützen würde. Ich machte mir die Ent­scheidung nicht leicht.

Zwar war ich gesamtdeutsch eingestellt und ein Gegner der DDR, aber ich wußte auch um das Verfolgungsrisiko, wenngleich ich es immer noch unterschätzte. Andererseits bot sich mir hier erstmals die Möglichkeit, als kleiner Teil eines größeren Ganzen etwas Sinnvolles gegen die deutsche Teilung zu tun und zugleich Menschen aus der DDR effektiv zu helfen. Angesichts der Tristesse der Lebensverhältnisse in der DDR konnte ich jeden verstehen, der dort wegwollte.

So willigte ich letztlich ein, Flüchtlinge in einem Kraftfahrzeug versteckt über die Transit­strecken in den Westen zu bringen. Wie jeder „illegal“ Handelnde ging ich natürlich davon aus, es werde alles gelingen. Falls nicht, ging ich angesichts des DDR-Strafrahmens und der Möglichkeiten des Häftlingsfreikaufs davon aus, bei einer Strafe von etwas über zwei Jahren maximal etwas mehr als ein Jahr absitzen zu müssen. Dieses Risiko war ich bereit, auf mich zu nehmen. Das hatte nichts mit Abenteuerlust, aber viel mit nationalrevolutionärer Romantik zu tun, von der ich als damals Zwanzigjähriger nicht frei war.

Am 9. April 1976 war es schließlich so weit. Ich versuchte, eine vermeintliche Familie mit ei­nem Kleinkind im Kofferraum eines Fahrzeugs verborgen über den Grenzübergang Marienborn in die Bundesrepublik zu bringen. Das Vorhaben war bereits bei der Einreise zum Scheitern verurteilt, weil die Verstärkung der Heckfederung des Fahrzeugs bei der Einreisekontrolle als „Heckhochstand“ aufgefallen und mein Fahrzeug daraufhin zur Kontrolle bei der Ausreise vorgemerkt worden war. So wurden wir alle in Marienborn festgenommen.

Einen Tag später befand ich mich in einer Einzelzelle eines Stasi-Untersuchungsgefängnisses in Berlin. Das Fenster war mit Glasziegeln vermauert, so daß man von draußen nur hell und dunkel erkennen konnte.

Die Gefängniswärter beschränkten sich auf wortlose Gesten oder kurze Befehle. Einziger Gesprächspartner („Sie können mich mit ‘Herr Unterleutnant’ anre­den“) war mein Vernehmer. Erst nach fünf Wochen erfuhr ich von einem ersten Mithäftling, daß ich in Hohenschönhausen war.

Schon Ende April hatte ich mir aus einem Verzeichnis der damals in der DDR zugelassenen 624 Rechtsanwälte einen Verteidiger aussuchen dürfen und mich für den mir aus der Presse bekannten Anwalt Dr. Vogel entschieden. Ein Schlag war es schon, als mir im Sommer 1976 ein Vertreter meines Verteidigers (O-Ton des Vernehmers: „Ihr Anwalt befindet sich auf frei­em Fuß und besitzt juristische Fachkenntnisse. Ansonsten hat er die gleichen Rechte und Möglichkeiten wie Sie.“) zu verstehen gab, ich müsse mich auf ein Urteil von fünf bis sechs Jahren einstellen. Aber die Hoffnung auf einen vorzeitigen Freikauf blieb.

Ende August wurde ich nach Frankfurt/Oder gebracht, wo am 6. September 1976 mein Prozeß stattfand. Ich wurde zu fünf Jahren Freiheitsentzug verurteilt und kam einen Tag später nach Hohenschönhausen zurück.

Einen Monat später wurde ich in den Strafvollzug überstellt. Mit der Strafanstalt Berlin-Rummelsburg verglichen, war Hohenschönhausen rückblickend ein Idyll gewesen. In Rum­melsburg kam ich auf eine Zelle mit fünf westdeutschen Mithäftlingen. Die Zelle war vielleicht 14 Quadratmeter groß, enthielt zwei dreistöckige Hochbetten, einen großen Tisch, sechs Schemel und zwei Spinde. In einer Ecke befanden sich WC und Ausguß. Nach einem Monat kam ich auf ein Arbeitskommando, wo wir Relais montierten. Die Unterbringung war auch auf dem Arbeitskommando nicht anders.

Die Haftbedingungen änderten sich erst im Mai 1977 etwas zum Besseren. Statt einzelner Zellen gab es nun Hafttrakte mit untereinander verbundenen Hafträumen und einem getrenn­ten Dusch- und Sanitärraum. Aber auch hier blieb die belastende Massenunterbringung von nunmehr 30 Häftlingen pro Trakt.

Im Laufe des Jahres 1978 wurde dann deutlich, daß ich nicht freigekauft würde, obwohl ich die Hälfte meiner Haftzeit abgesessen hatte. Hintergrund war die Funktion meines Vaters als Landesschulrat von Berlin, die die DDR zu dem Versuch verleitet hatte, in meinem Fall den Freikaufpreis hochtreiben zu wollen. Als sich die westli­che Seite hierauf nicht einließ, blockte die DDR meinen Freikauf völlig. Nun war guter Rat teuer, und mein Vater mußte alle seine politischen Kontakte nutzen, um über Herbert Weh­ner letztlich meine Aufnahme „aus humanitären Gründen“ in die Austauschprogramme der deutsch-deutschen Nachrichtendienste zu erreichen.

Von diesen Bemühungen wußte ich in Rummelsburg natürlich nichts, so daß sich die letzten Monate in Haft für mich besonders belastend gestalteten. Irgendwie schien nun schon die Verbüßung der gesamten Strafzeit bis April 1981 im Raum zu stehen. Hinzu kam, daß wir seit Oktober 1978 im Dreischicht-System rund um die Uhr arbeiteten. Vor allem die Nachtschichtwochen waren auch körperlich sehr belastend.

Im Juli 1979 erfolgte dann der Austausch. Zusammen mit einer Frau aus Bautzen II wurden wir im Mercedes 250 des Rechtsanwalts Vogel über den Grenzübergang Invalidenstraße zum West-Berliner Anwaltsbüro Stange in der Bundesallee gefahren, wo mich meine Familie erwartete. Einen Monat später begann ich mit der Niederschrift meiner Hafterlebnisse, die erstmals im Oktober 1981 unter dem Titel „Gefangen und freigetauscht“ erschienen. Es war der erste Erlebnisbericht eines westdeutschen Fluchthelfers und DDR-Häftlings, der zugleich das Schweigegebot der Entspannungspolitik über derlei Angelegenheiten durchbrach. So war es auch schwer, für das Manuskript damals einen Verlag zu finden, aber als das Buch erschienen war, stieß es auf erhebliche Resonanz. Rückblickend denke ich, durch mein Buch weitaus mehr bewirkt zu haben als durch das gescheiterte Fluchthilfevorhaben.

Gleichwohl sind 35 Jahre nach meiner Haftentlassung und 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer die damaligen Ereignisse glücklicherweise nicht die für mein Leben prägenden geblieben, sondern haben sich als gleichberechtigte Bestandteile meiner Biographie in diese eingereiht.

 

Dr. Matthias Bath, geboren 1956, arbeitet als Staatsanwalt und Publizist in Berlin.

Foto: DDR-Flüchtling im Kofferraum (nachgestellt): Das Risiko unterschätzt

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