© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/14 / 14. November 2014

„Das ist Sexualisierung“
Experten schlagen Alarm. Unter dem Deckmantel der „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ drängen Initiativen an die Schulen, die fragwürdige Inhalte in die Klassen tragen, warnt die Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung.
Moritz Schwarz

Frau Professor Etschenberg, mit der Frühsexualisierung unserer Kinder in den Schulen kann es ja nicht so schlimm sein. Sonst müßte es doch einen Aufschrei der Fachwelt geben.

Etschenberg: Wenn Sie mit Fachwelt die sexualpädagogische Fachwelt meinen – warum sollte es da einen Aufschrei geben, wenn die Einschätzung quasi des Meinungsführers in der Sexualpädagogik, Professor Uwe Sielert, zutrifft: „Die wissenschaftliche professionelle Sexualpädagogik ist sich in den wesentlichen Dingen einig.“

Sie meinen das ironisch?

Etschenberg: Ja, wer will sich schon wegen eines Aufschreis als „unwissenschaftlich“ und „unprofessionell“ bezeichnen lassen?

Das heißt, die Sexualpädagogik ist sozusagen „gleichgeschaltet“?

Etschenberg: So kann man das nennen. Die einzige Professur für Sexualpädagogik an einer Universität ist in Kiel besetzt von einer Wissenschaftlerin, die bei Uwe Sielert promoviert hat. Auch zwei der Autoren des umstrittenen Handbuchs „Sexualpädagogik der Vielfalt“ wurden bei den Promotionen von Uwe Sielert begutachtet. Aus- und Weiterbildungs-angebote gibt es an Fachhochschulen – etwa in Merseburg –, bei Institutionen wie Pro Familia und am Institut für Sexualpädagogik (ISP) in Dortmund, das von Professor Sielert gegründet wurde. Hier ist sozusagen die Keimzelle der heutigen Sexualpädagogenszene. Absolventen werden mit einem institutseigenen Zertifikat als „Experten“ für Sexualpädagogik ausgewiesen. Von praktischer Bedeutung sind die vielfältigen Verbindungen zwischen ISP und der Abteilung für Sexualaufklärung bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die großen Einfluß auf die Sexualerziehung nimmt. Sielert war von 1989 bis 1992 Mitarbeiter in dieser Abteilung. Die BZgA wird mit Steuergeldern finanziert. Sie unterstützt durch Veröffentlichungen von Sexualpädagogen, die dem ISP nahestehen, die Verbreitung der dort vertretenen sexualpädagogischen Konzepte.

Gibt es wirklich keine andersdenkenden Fachleute?

Etschenberg: Doch, aber sie haben wenig Einfluß, wenn sie nicht in die genannten Einrichtungen institutionell eingebunden sind. Und wenn die Kultusbehörden keinen „runden Tisch“ einberufen, um eine konsensfähige schulische Sexualerziehung zu diskutieren, ist programmiert, daß Stimmen außerhalb des meinungsführenden „Expertenzirkels“ nicht wahrgenommen werden.

Immerhin hat sich unlängst der Vorsitzende des Philologenverbandes Baden-Württemberg, Bernd Saur, zu Wort gemeldet. In einem Gastbeitrag für den „Focus“ kritisierte er die „Übersexualisierung, ja Pornographisierung in der Schule“ durch die Bildungspläne der Landesregierungen Baden-Württemberg, Niedersachsen und NRW.

Etschenberg: Nach meiner Ansicht machte Herr Saur einen Fehler. Er vermischte die Inhalte der Bildungspläne mit dem Inhalt des Praxishandbuchs „Sexualpädagogik der Vielfalt“, aus dem er zitiert hat.

Saur schreibt: „Themen wie Spermaschlucken, Dirty Talking, Oral- und Analverkehr und sonstige Sexualpraktiken inklusive Gruppensex-Konstellationen, Lieblingsstellungen oder die wichtige Frage ‘Wie betreibt man einen Puff’ sollen in den Klassenzimmern diskutiert werden. Das sprengt eindeutig den Rahmen dessen, was Kindern zugemutet werden darf.“

Etschenberg: Die Beispiele stammen nicht aus den Bildungsplänen der Länder, sondern eben aus „Sexualpädagogik der Vielfalt“. Das umstrittene Buch wiederum hat eigentlich nichts mit der Schule zu tun. Herr Saur hat diese Vermischung inzwischen auch eingeräumt.

Also Entwarnung?

Etschenberg: Ganz und gar nicht! Wenn es den Autoren von „Sexualpädagogik der Vielfalt“ und der dahinterstehenden „sexualpädagogischen Lehrmeinung“ gelingt, ihre Vorstellungen von „Akzeptanzförderung sexueller Vielfalt“ in unseren Schulen zu etablieren, dann bekommt Herr Saur doch noch recht!

Was genau geht in den Schulen dann vor sich?

Etschenberg: Nach meiner Ansicht droht dort eine Sexualisierung von Kindern und Jugendlichen nicht durch Bildungspläne an sich, sondern durch das Vorgehen diverser Gruppierungen, Initiativen und Projekte, die zum Teil fragwürdige Inhalte in die Schulen tragen.

Zum Beispiel?

Etschenberg: Ich greife ein unlängst in der FAZ geschildertes Beispiel auf: Da geht es um eine 12jährige Schülerin, die berichtet, in der Schule die Hausaufgabe bekommen zu haben, sich Kondome zu kaufen. Dahinter steht das studentische Projekt „Mit Sicherheit verliebt“.

Ist das bereits Sexualisierung?

Etschenberg: Nein, das Enttabuisieren von Kondomen ist ein allgemein akzeptiertes Lernziel. Doch nachdem die Schülerin das Kondom besorgt hatte, wurde sie aufgefordert, es nun doch immer bei sich zu tragen, da es doch schade sei, wenn der spontane Spaß am fehlenden Kondom scheitere. Damit wird die Grenze der wünschenswerten Aufklärung überschritten. Und dies ist nur ein Beispiel für den Zugriff auf das Intimleben der Kinder. Die von Herrn Saur genannten Zitate aus „Sexualpädagogik der Vielfalt“ sind ein anderes. Immer wieder finden wir in der Sexualpädagogik Maßnahmen mit gezieltem Abbau der Schamgrenze etwa durch Preisgeben eigener sexueller Vorlieben und erotisierende Methoden wie etwa Streichelübungen in der Schule. Übergriffig finde ich zum Beispiel eine Übung wie „Sex-Mosaik“, in der 14jährige zu der Frage „Was gehört für dich unbedingt zur Sexualität dazu?“ und „Was hat für dich keinesfalls mit Sexualität zu tun?“ Gegenstände aussuchen und dazu Erläuterungen geben sollen. Zu den Gegenständen gehören etwa Ehering, Bibel, Kreuz, Lederpeitsche, Vibrator oder Taschen-Muschi.

Was bitte ist eine „Taschen-Muschi“?

Etschenberg: Das ist sozusagen das Gegenstück zu einem Dildo: eine Nachbildung des weiblichen Genitals, das Männern den Sex mit sich allein verschönern soll.

Wer sind diese Gruppierungen, Initiativen und Projekte?

Etschenberg: Um ein Beispiel zu nennen: Bei der Initiative SchLAu („Schwul Lesbisch Bi Trans* Aufklärung“) arbeiten ehrenamtlich Menschen mit, die durch persönliches Betroffensein motiviert sind, sich bei Jugendlichen für Akzeptanz sexueller Vielfalt einzusetzen. Sie durchlaufen in der Regel nur eine interne Ausbildung, bieten aber Workshops in der Schule an.

Im Klartext, es handelt sich um Homosexuelle, die dort Eigeninteressen lancieren?

Etschenberg: Wenn Homosexuelle in der Schule homosexuell veranlagten Jugendlichen den Umgang mit ihrer Sexualität erleichtern wollen, ist das anerkennenswert. Wenn dabei aber für homosexuelles Handeln geworben wird, ist das inakzeptabel. Was wirklich geschieht, müßte geklärt werden.

Wie viele solcher Gruppen gibt es?

Etschenberg: Ich weiß es nicht, und ich glaube nicht, daß sie schon jemand gezählt hat.

Welchen Zugang haben diese Initiativen an den Schulen?

Etschenberg: Mir ist nicht bekannt, daß es dazu eine Erhebung gäbe. Man müßte also bei jeder einzelnen Kultusbehörde nachfragen, welche außerschulischen Institutionen und Gruppierungen als Gäste in der Schule zum Thema Sexualität akzeptiert werden. Allerdings verweisen die Kultusbehörden gerne auf die Zuständigkeit der Schulen. Ergo müßte man bei jeder Schule nachfragen.

Warum haben solche Initiativen überhaupt Zugang zu unseren Schulen?

Etschenberg: Ich möchte vorausschicken, daß die reguläre schulische Sexualerziehung – auch in der Grundschule – von den ursprünglichen Zielen und Konzepten her nichts, aber auch gar nichts mit Frühsexualisierung zu tun hat. Ebenso haben die Bildungspläne und die darin enthaltene Zielsetzung „Förderung der Akzeptanz sexueller Vielfalt“ an sich nichts mit Sexualisierung zu tun. Aber: Unter dem Deckmantel dieser Akzeptanzförderung dringen Initiativen in die Schulen vor, die vordergründig beanspruchen, die Lehrkräfte bei der Umsetzung des Ziels zu entlasten. Zum Vergleich: Als 1968 die sehr wichtige Sexualerziehung an den Schulen eingeführt wurde, glaubten wir uns einig, Kinder über Sexualität aufklären, ihnen ein positives Verhältnis zur Sexualität und sozialethische Orientierungen vermitteln zu sollen. Doch schon bald stellte sich heraus, daß manche Sexualpädagogen, unter anderem um Professor Sielert, Sexualerziehung weitgehender interpretierten: Die positive Einstellung sollte und soll nicht nur durch Aufklärung, Entängstigung und Ermutigung zu selbstbestimmtem sexuellem Handeln, sondern auch durch Anregung und Ermunterung zu sexuellem Handeln vom Kleinkindalter an erreicht werden. Nun wiederholt sich das: Der sexualpädagogische Laie glaubt, mit „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ sei gemeint, jeder solle nach seiner Façon selig werden. Sexualpädagogische Initiativen interpretieren das aber in dem Sinne, daß Kinder die Vielfalt der Sexualpraktiken kennenlernen müssen, um zu einem „offenen Verhältnis“ zur sexuellen Vielfalt zu kommen. Und da sage ich: Das ist Sexualisierung!

Was haben die Macher der Bildungspläne und die Politiker denn tatsächlich mit „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ gemeint?

Etschenberg: Ich will den Machern nichts unterstellen, vermutlich meinen die meisten von ihnen diese Akzeptanzförderung im harmlosen Sinne. Aber ich fürchte, daß viele sich gar nicht bewußt sind, was da für Initiativen und Ideologen im Schlepptau der Akzeptanzförderung in die Schulen kommen. Also: Nicht Bildungspläne sind das Problem, sondern daß immer mehr Initiativen in die Schulen drängen, deren Interessen und Ziele nicht transparent sind. Da ist Widerstand angesagt.

Warum kommen diese Leute überhaupt in die Schulen? Warum wird der Auftrag zur Akzeptanzförderung nicht von den Lehrern umgesetzt?

Etschenberg: Das ist von Schule zu Schule unterschiedlich. Diese Initiativen signalisieren Schulen und Lehrern: Es gibt da diesen neuen Lerninhalt, den ihr umsetzen müßt. Wir haben dazu die Experten und die Materialien! Wir können das für euch machen! Es ist dann Sache der Schulen und Lehrer, ob sie darauf zurückgreifen. Manche werden es tun, andere nicht. Und denen, die es tun, muß keineswegs klar sein, worauf sie sich einlassen. Einige Initiativen schlagen ja sogar vor, der Lehrer soll die Klasse verlassen, während ihr „Experte“ seinen „Unterricht“ durchführt.

Was haben die Inhalte solcher Initiativen denn mit der Förderung des Respekts vor anderen sexuellen Neigungen zu tun?

Etschenberg: Nach meiner Meinung: Nichts. Akzeptanz sexueller Vielfalt ist Bestandteil von Sozialerziehung in einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft. Entängstigende und schützende Begleitung von Kindern und Jugendlichen, die von sich aus nicht den heterosexuellen Normvorstellungen entsprechen, ist selbstverständliche pädagogische Pflicht. Problematisch ist also die Methode, mit der hier vorgegangen wird. Ein Kind darf im Unterricht durchaus erfahren, was ein Dildo ist, die werden ja sogar in Prospekten für Seniorinnen angeboten, aber dafür braucht sich kein Kind in Gruppenarbeit praktisch damit zu beschäftigen. Es gibt in der Sexualkunde Wichtigeres, für das man Unterrichtszeit verwenden sollte.

Fördert solcherart Unterricht tatsächlich Kindesmißbrauch, wie Kritiker meinen?

Etschenberg: Wenn Kinder gezielt als Sexualwesen angesprochen, gefördert, ja sogar gefordert oder bedrängt werden, dann wird ihr „Nein“ zu sexuellen Handlungen untereinander und mit Erwachsenen immer unwahrscheinlicher, solange keine schmerzhafte Gewalt im Spiel ist. Ich unterstelle den beteiligten Sexualpädagogen keineswegs, daß sie das beabsichtigen, aber ich bin davon überzeugt, daß sie dazu beitragen, gewaltfreie sexuelle Handlungen mit Kindern als harmlos anzusehen und das diesbezügliche Unrechtbewußtsein in der Bevölkerung zu schwächen.

Obwohl Sie dem umstrittenen Bildungsplan in Baden-Württemberg bescheinigen, „an sich nichts mit Frühsexualisierung zu tun“ zu haben, kritisieren Sie ihn dennoch. Warum?

Etschenberg: Mir fällt innerhalb des Bildungsplans – der ja alle möglichen Inhalte enthält, keineswegs geht es da nur um Sexualerziehung – eine merkwürdige Hervorhebung des Themas „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ auf, die aus der Systematik des Bildungsplans herausfällt. Das macht stutzig. Denn wir haben ja noch ganz andere aktuelle und zukünftige Probleme, die wir in der Schule bewältigen müssen, aber ausgerechnet dieses eine wird so herausgehoben. Man fragt sich, ob vielleicht – und wenn ja, welche – Lobbyisten das in den Plan hineingedrückt haben.

Was vermuten Sie?

Etschenberg: Ich habe keinen konkreten Verdacht, aber es ist kein gutes Zeichen, sollte der Plan unterschwellig den Geist von sogenannten Gender-Ideologen atmen. Wir haben schon vor über dreißig Jahren die traditionellen Geschlechter-Rollen in der Sexualerziehung reflektiert und dafür geworben, daß sich die Kinder frei entscheiden können: Jungen sollen auch Hebamme oder Kindergärtner oder Hausmann werden können und Mädchen Kranführerin oder Vorstandschefin, wenn sie das wollen. Das ist inzwischen auch gesellschaftlich akzeptiert. Aber jetzt kommt auf einmal diese Gender-Ideologie, die das Prinzip der biologischen Zweigeschlechtlichkeit in Frage stellt und die Gesellschaft, das Geschlechterverhältnis und das Sexualverhalten grundsätzlich verändern willl. Das hat aber nichts mehr mit dem ursprünglichen Anliegen zu tun, für Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der Geschlechter zu sorgen oder Menschen von einem festgelegten Rollenbild zu emanzipieren. Ich verstehe nicht, warum es für diese klassischen Ziele einer grundsätzlichen „Umerziehung“ der Gesellschaft bedürfen sollte. Umerziehung gehört doch eher zu den Taktiken totalitärer Staaten. In einer Demokratie wären der offene Diskurs und Überzeugungsarbeit gefragt. Und die Entdiskriminierung einer Gruppe darf nicht zur Diskriminierung einer anderen Gruppe umfunktioniert werden!

 

Prof. Dr. Karla Etschenberg, die ehemalige Lehrerin und Erziehungswissenschaftlerin mit den Schwerpunkten Didaktik der Biologie, Humanbiologie, Gesundheits- und Sexualerziehung lehrte an den Universitäten Köln, Kiel und Flensburg. Zwei Jahre war sie im Koordinierungsstab „AIDS“ des Bundesministeriums für Gesundheit tätig und konzipierte Unterrichtsmaterialien für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, unter anderem zum Thema sexuell übertragbare Krankheiten. Etschenberg ist Herausgeberin von Themenheften zur Gesundheits- und Sexualerziehung im Friedrich-Verlag. Von 1993 bis 2001 war sie Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtserziehung und ist derzeit Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung. Sie arbeitet im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW und im Fachbeirat der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld in Berlin mit. Geboren wurde sie 1941 in Uelzen.

Foto: Unterrichtsmaterialien: „Der Laie glaubt, ‘sexuelle Vielfalt‘ bedeutet, jeder soll nach seiner Façon selig werden. Diese Initiativen interpretieren das aber in ganz anderem Sinn.“

 

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