© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/14 / 14. November 2014

Liebe kann nichts ausrichten
Echtes Pathos und große Illusionen: Das Mutter-Sohn-Drama „Mommy“ von Regsisseur Xavier Dolan läuft diese Woche im Kino an
Sebastian Hennig

Der gerade erst neunzehnjährige Xavier Dolan produzierte nach seinem damals drei Jahre alten Drehbuch 2009 „Ich habe meine Mutter getötet“. Darin wird einem homosexuell veranlagten Teenager das Zusammenleben mit seiner Mutter immer unerträglicher. Dieses Jahr gelangen gleich zwei Werke des frankokanadischen Regisseurs in die deutschen Kinos. Wer von den drei vorangegangenen Produktionen nichts wußte, der konnte im August mit „Sag nicht, wer du bist“ (JF 35/14) dem verblüffenden Wurf eines Nachwuchsregisseurs begegnen.

Dolans fünfter Film „Mommy“ ist schlichtweg ein Meisterwerk der Filmkunst. Eine Mitteilung der Handlung kann die Filme Dolans nicht beschreiben. Ohne zu wissen, wie sie in Szene gesetzt ist, wirkt auch diese Geschichte nur abschreckend: Steve (Antoine Olivier Pilon) durchlief als hoffnungsloser Fall mehrere Erziehungsheime. Im letzten hat er gerade einen Brand verursacht, als seine Mutter Diane (Anne Dorval) ihn wieder nach Hause holt. Die Anstaltsleiterin gibt ihnen keine Chance für ein normales Leben: „Liebe reicht nicht, um jemand zu retten. Liebe kann nichts ausrichten.“

Das glaubt man zu kennen: Das Verhängnis als der düstere Grund, auf dem ein Schmunzeln, ein Augenzwinkern, zuweilen ein Licht aufgehen läßt, das zeigt, wie alles besser werden könnte. Doch so ist es hier nicht. Es ist zwar schlimm, aber es ist zugleich gut so. In mehr als zwei Stunden wird eine an sich ausweglose Situation als „strahlende Geschichte über Mut, Liebe und Freundschaft“ (Dolan) erzählt. Trübsinn und Niedergeschlagenheit werden nicht zur Bedeutungsschwere stilisiert. Alles ist leicht und zugleich echt.

Die Aura der Schauspieler ist hypnotisch. Statt Karikaturen sind echte Menschen voller Widersprüche zu sehen. Auch in komischen Situationen werden die handelnden Personen nicht denunziert. Um die Rücknahme ihres Sohns zu quittieren, weist Diane den angebotenen Stift zurück. Stattdessen zieht sie ein sperriges Schlüsselbund hervor. In dem Gestrüpp von Dutzenden geschmacklosen Nippes verbirgt sich dann ein winziges Schreibgerät.

Die Liebestyrannei geht diesmal vom Sohn aus. Nach einer tätlichen Auseinandersetzung mit der Mutter bietet sich die Nachbarin Kyla (Suzanne Clément) spontan als Sanitäterin ein. Die dauerhaft beurlaubte Lehrerin stottert stark und spricht darum kaum. Es ist zu ahnen, wie ihr der Beruf mitgespielt hat: „Ich bin noch nicht wieder bereit, mit Kindern zu arbeiten.“ Doch ihr Tick verschwindet bald in der neuen Dreisamkeit. Die beiden Damen sind ein bißchen auch Schreckschrauben und Likördrosseln, aber eben nicht nur das. So wie auch Steve einen unbezwinglichen Charme hat, aber zugleich ein sensibler Rohling ist. Schonungslos brutal und unendlich schön wie dieser Junge ist auch der Film. Dolan wollte „einen Film über Gewinner machen, was auch immer ihnen am Ende widerfährt.“

Kameramann André Turpin hat ihn in quadratischer Abmessung fotografiert. In einigen hoffnungsvollen Szenen weitet das Filmbild sich langsam zum Breitformat und zieht sich danach wieder zusammen, so wie Vorhänge vor einer Bühne zugehen. Die Fotografie ist von einer goldbraunen Wärme angefüllt, wie bei einem Werbefilm für alten Cognac.

„Es kommt nicht vor, daß eine Mutter ihren Sohn weniger liebt. Das ist die natürliche Ordnung der Dinge“, erklärt Diane ihrem schrecklichen Kind. Zuletzt gibt sie auf und liefert den arglosen Steve unangekündigt in einer Anstalt ab. Grausamer als die gewaltsame Bändigung des Ungezügelten ist es anzusehen, wie die beiden Frauen sich zuletzt gegenüberstehen, viel sprechen und sich doch nichts sagen können.

Der Film endet mit einer aussichtslosen Handlung, deren magischer Realismus als Dolan-Effekt in die Filmgeschichte eingehen könnte. Hier wird mit großer Heftigkeit zu einem Schlag ausgeholt, der nirgendwo auftreffen kann und doch befreiend wirkt. Während Steve auf dem Gang der Anstalt aus seiner Zwangsjacke geschnallt wird, unterhalten sich die Wärter über die kleinen Widerwärtigkeiten des Privatlebens, Trunksucht, beiläufige Untreue und stete Unzuverlässigkeit. Wie eine Feder, deren Sperre sich löst, schnellt der Junge aus der Fessel. Er rennt den Gang entlang, an dessen Ende hinter einem Fenster blaß eine Abendröte aufscheint. Die Wärter sind ihm auf den Fersen. Es steht außer Zweifel, daß hier keine reelle Fluchtmöglichkeit besteht. Doch auf seinem Gesicht trägt der Rennende ein erleichtertes Lächeln ...

Am Ende bleibt der Betrachter mit einem unerklärlichen Gefühl der Befreiung zurück. Falsches Pathos ist im Filmgeschäft ebenso leicht zu haben wie Illusionslosigkeit. Echtes Pathos und große Illusionen aber vermögen nur Meister der Lichtspielkunst zu erzeugen.

Anläßlich des Hamburger Filmfests war Xavier Dolan im Oktober zum ersten Mal in Deutschland. Befragt, warum er gegenwärtig die deutsche Sprache lerne, meinte er: „Weil ich Deutsch so sehr liebe. Es ist so stark und sinnlich. (…) Die Sprache ist so musikalisch.“ Xavier Dolan ist eben in vieler Hinsicht ein ungewöhnlicher Filmemacher.

www.mommy.weltkino.de

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