© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/14 / 14. November 2014

Die Zeichen nicht erkannt
Preisverleihung an 89er-Revolutionäre
Christian Dorn

In seiner Laudatio auf die diesjährigen Preisträger der Deutschen Gesellschaft e.V. erinnerte Janusz Reiter, ehemaliger Botschafter Polens in Deutschland (1990 bis 1995), daran, daß „die Geschichte, die wir heute feiern“, letztlich ein „retrospektiver Determinimus“ sei. Zum inzwischen zehnten Mal zeichnete die Gesellschaft Persönlichkeiten für deren „Verdienste um die deutsche und europäische Verständigung“ aus: Rainer Eppelmann und Christoph Wonneberger, die als Pastoren die friedliche Revolution wesentlich vorbereiteten, sowie Thomas Küttler, damaliger Superintendent in Plauen, das 1989 Vorreiter der revolutionären Entwicklung war, sowie Herbert Wagner, der als Oberbürgermeister Dresdens den SED-Mann Wolfgang Berghofer abgelöst hatte. Es war einer jener gesellschaftlichen Rahmen, in denen die Behauptung einer EU-gebundenen Teleologie keinen Widerspruch duldete, aber auch keine Veranlassung dafür bot.

„Auf Polen!“ – „Auf Deutschland!“

Anläßlich des „25. Geburtstages der Revolution“, so Franz Müntefering (SPD) als Vorsitzender des Vereins, erhielten die Geehrten eine Metallplastik des Kunstschmieds Achim Kühn mit dem vielsagenden Titel „Buch mit sieben Siegeln“, den der einstige Vizekanzler nicht weiter deuten wollte. Offenbar wohnt also allem Anfang nicht nur ein Zauber inne (Hermann Hesse), sondern auch ein Geheimnis, das es zu bewahren gilt. Dazu zählte für den Kaschuben Reiter die Entscheidung der DDR-Bewohner, den 4. Juni 1989 als Signal der Hoffnung zu deuten. Stand dieser doch nicht nur für den Tag des Tiananmen-Massakers in Peking, sondern zugleich für den Wahlsieg der Solidarność-Bewegung. Dennoch seien die Zeichen der Zeit nicht für alle sichtbar gewesen, „weder Politiker noch Geheimdienstleute haben sie erkannt“.

Am letzten Republikgeburtstag der DDR am 7. Oktober hatte sich Reiter von der offiziellen Delegation gelöst und war privat in Ost-Berlin unterwegs gewesen. Er schilderte den Besuch eines leeren Bistros, von dem aus die Geräusche der Militärparade zu hören waren. Nachdem die Kellnerin ihren einzigen Gast als Ausländer identifiziert hatte, faßte sie Mut und fragte: „Müssen die das?“ Als sich Reiter daraufhin vorstellte, holte die Kellnerin einen Weinbrand, um anzustoßen: „Auf Polen!“ Darauf Reiter: „Auf Deutschland!“

Dort, so Eppelmanns Klage in seiner Dankesrede, höre heute „an vielen Schulen der Geschichtsunterricht am 8. Mai ’45 auf“.

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