© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/14 / 21. November 2014

Endstation Ruheforst
Bestattungskultur im Wandel: Sargbestattungen werden seltener, Urnengräber nehmen zu
Heiko Urbanzyk

Marl, am Rande des Ruhrgebietes. Eine kleine Kapelle auf dem katholischen Friedhof am Volkspark, fast mitten in der Stadt. Opa Heinz tritt hier seine letzte Reise an. Der Pastor spricht vor einer kleinen Trauergemeinde. Zum Abschied dürfen die Angehörigen nach vorne kommen und eine Blume auf den Sarg legen; letzte Grußworte werden geflüstert. Das war’s! Opa Heinz’ Sarg wird nicht von Trägern in schwarzen Anzügen feierlich über die Schotterwege zu einem Grab getragen. Es gibt keine Schlange trauernder Gäste vor einer Grube, niemand wirft eine Schaufel Erde oder eine Rosen hinein. Es wird kein prächtiger Grabstein gesetzt. Opa Heinz wird eingeäschert und zu diesem Zwecke wieder zum Bestattungsinstitut gefahren. Einige Tage später wird Oma Gertrud mit ihrem einzigen Sohn die Asche in aller Stille einer Art steinernem Schrank auf dem Friedhof übergeben – ein Urnenbegräbnis. Eine Variante davon.

Die Bestattungskultur in Deutschland hat sich in den letzten dreißig Jahren massiv gewandelt. Die einst übliche Sargbestattung mit üppiger Totenfeier ist auf dem Rückzug. Auf dem Vormarsch sind Urnenbestattungen auf dem Friedhof oder in Wäldern. Dem Bundesverband Deutscher Bestatter (BDB) zufolge werden aktuell 45,5 Prozent der Toten im Sarg bestattet; 54,5 Prozent werden eingeäschert. Von den Eingeäscherten werden 2,5 Prozent der See übergeben; 5 Prozent finden ihre letzte Ruhe anonym. Der BDB erklärt, daß der Wandel von Bestattungskultur üblich sei. Heutzutage gehe er jedoch sehr schnell vonstatten. In manchen Gemeinden wird zu über 80 Prozent eingeäschert.

Bestattungswesen bietet individuelle Lösungen

Die Gründe sind vielfältig. Ein Hauptgrund neben den Kosten ist stets die Grabpflege. Familien sind kleiner geworden. Das Arbeitsleben verlangt Mobilität. Wer wird das Grab pflegen, wenn Oma noch in Augsburg wohnte, während die Kinder nach München und Düsseldorf gezogen sind und die Enkel in Hamburg und Leipzig studieren? Wie und wo wird am besten der viel zu früh verstorbene Sohn beerdigt, der seit fünfzehn Jahren in Berlin wohnte, dessen gesamte Familie aber seit jeher in und um Wismar verteilt ist? Fragen über Fragen, und das heutige Bestattungswesen ermöglicht fast alle möglichen individuellen Lösungen. Lediglich die häusliche Aufbewahrung der Asche des Verstorbenen ist nach den jeweiligen Landesgesetzen verboten. Den „Friedhofszwang“ befürwortet der BDB aufgrund „kultureller, trauerpsychologischer und hygienischer Aspekte“.

Kritiker der Urnenbestattung führen ins Feld, daß es sich um eine reine Bequemlichkeit der Angehörigen handle. Jeder Tote habe Grabpflege verdient. Die Stelen, die neben der Erdbestattung von Urnen ebenso vorkommen, werden zuweilen als unästhetisch empfunden. Im Gegensatz zum Grab verbieten Friedhofssatzungen oft Blumen, Kerzen und Figürchen. Der Wunsch nach Arbeitsersparnis kollidiert nicht selten mit Erfordernissen der dringend zu bewältigenden Trauer.

Aus christlicher und auch uralter vorchristlicher Tradition heraus stellt das Desinteresse an der Grabpflege ein Novum dar. Der BDB warnt sogar vor einer „Entsorgungsmentalität“: „Wenn Bestattung nur noch unter der Prämisse der Entsorgung eines Leichnams gesehen wird, wenn es ausschließlich um technische und finanzielle Fragestellungen geht, kann man von einer solchen Entsorgungsmentalität sprechen.“ Also doch ein Werteverfall?

Bis zu zwölf Ruhebiotope um einen Baum herum

Der Wandel in der Bestattungskultur schlägt sich nicht nur in dem individuellen Wandel der Bestattungsart nieder. Die Friedhofsnutzung und ihre Auslastung sind ebenso betroffen und zwingen die Städte zum Umdenken. Zum Beispiel in Coesfeld, im Zentrum des „schwarzen Münsterlandes“. Hier herrscht Vollbeschäftigung am Arbeitsmarkt. Stramm katholisch ist der Ruf, und selbst in Zeiten des AfD-Aufschwungs bleibt der Münsterländer Wähler CDU und FDP treu ergeben. Die Namenstafeln der Gefallenen am innerstädtischen Kriegerdenkmal wurden gegen jeden Zeitgeist aufwendig restauriert. Müßte hier nicht die gute alte Sargbestattungstradition in Ordnung sein? Mitnichten.

Groß waren die Pläne für den jungen Friedhof mit Kapelle am nördlichen Stadtrand – zu groß. Die Wiesen sind noch zur Hälfte leer. Was die blühende Kreisstadt im Speckgürtel der Juristen- und Beamtenhochburg Münster dringend benötigt, ist Bauland für die zuziehenden Familien. Der Knochenacker in seiner jetzigen Form blieb. Die 1,9 Hektar Reserveflächen jedoch sind mittlerweile zur Bebauung für Ein- und Zweifamilienhäuser freigegeben.

Wird in Coesfeld nicht genug gestorben? Doch, bloß anders beerdigt. Nur zwei Kilometer vom neuen Baugebiet entfernt liegt der Ruheforst Westmünsterland Coesfeld. Hier stehen die Kunden schon zu Lebzeiten Schlange, um sich das Nutzungsrecht an einem „Ruhebiotop“ bis zum Jahr 2106 zu sichern. „Wir mußten im letzten Frühjahr erweitern“, kommentiert Petra Thoms von der Ruheforst-Verwaltung auf Nachfrage der JF. Neun Hektar umfasse das Areal heute, „und wir werden wieder erweitern müssen. Es kommen immer mehr zu uns“.

Die Ruhebiotope liegen kreisförmig um Bäume herum; bis zu zwölf Biotope pro Baum. Ein blaues Band signalisiert, daß hier jemand ein Familienbiotop erworben hat: Alle Plätze sind reserviert und können vom Erwerber nach Belieben im Familien- und Freundeskreis vergeben werden – oder den Baum für sich allein nutzen. Ein gelbes Band signalisiert, daß noch Einzelplätze am Baum frei sind. Die Bäume sind in Wertstufen eingeteilt. Ein dicker, gut erreichbarer Baum mit prächtiger Krone ist teurer als ein kleiner Baum in einer hinteren Ecke. Das Nutzungsentgelt reicht von 550 Euro bis 1.100 Euro pro Platz; von 3.000 bis 6.600 Euro pro Baum. Die Beisetzung kommt mit 250 Euro extra dazu. Wer seinen toten Säugling bis zu einem Jahr beerdigen muß, zahlt kein Nutzungsentgelt – diese Bäume sind mit weißen Bändern gekennzeichnet.

Friedhofsflächen werden umgewidmet

In allen Fällen ist einzig die Urnenbestattung möglich, anonym oder mit Namensplakette. Grabschmuck, Pflanzen und Kerzen sind nicht erlaubt. Nicht einmal Blumen dürfen bei späteren Besuchen abgelegt, keine Lichter am Totensonntag entzündet werden. Wer individuell trauern möchte, ist hier falsch. Eine Gedenkhütte ersetzt die Trauer am Grab – oder auch nicht. Allerdings kommt gerade dieses Grabpflegeverbot modernen Bedürfnissen der Angehörigen entgegen. „Die Kunden kommen genau deswegen zu uns“, berichtet Thoms. Grabpflege sei nicht erwünscht, denn „die Angehörigen wohnen oft nicht mehr hier“.

Das Angebot einer Beisetzung „frei von Zwängen“ und „unabhängig von Wohnort und Konfession“ befriedigt die neuen Trends einer durchindividualisierten Gesellschaft. Christliche Bestattungszeremonien und weltliche Trauerreden „halten sich die Waage“, erklärt Thoms. „Wir haben selten große Feiern mit 100 Personen, eher den engsten Familienkreis.“ Auch anonyme Bestattungen durch die Ruheforst-Verwaltung werden vorgenommen, obwohl die Verstorbenen sehr wohl eine Familie haben. Warum möchte ein Mensch ohne jeden Angehörigen an einem unbekannten Ort begraben werden? Wir erfahren es nicht.

Überall in Deutschland werden Reserveflächen von Friedhöfen wie in Coesfeld zu Bauland umgewidmet oder renaturiert. Leerbleibende Grabstellen erfordern eine Umgestaltung, zum Beispiel durch Parkbänke und Wiesen. Friedhöfe können so zu neuen Orten der Begegnung im Rahmen von Spaziergängen werden.

Die Familie von Opa Heinz in Marl hält an einer alten Ruhrpottradition fest: dem Leichenschmaus nach der Messe in der urigen Kneipe gegenüber dem Friedhof. Auch das ist nicht jedermanns Sache – oder schlichtweg eine Kostenfrage.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen