© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/14 / 21. November 2014

Die Palme des Nordens
Dampfend vor Hitze und mit ordentlich Fleisch dabei: Die Grünkohlzeit ist ran!
Bernd Rademacher

Jetzt kommen die ersten Nachtfröste. Damit beginnt von der Küste bis ins Rheinland die Saison für ein typisch regionales Gericht: Grünkohl! Ob es überhaupt stimmt, daß der Grünkohl erst Frost haben muß, weil ihn das schmackhafter mache, wie Grünkohlfans schwören, oder ob es sich um eine Legende handelt, wie Wissenschaftler meinen, sei dahingestellt. Fakt ist: Der dampfende Kohl mit Speck oder Mettwurst gehört zum Winter wie Glühwein und Stollen.

Die Römer aßen ihn in rauhen Mengen

Zumindest nördlich des Mains, denn der Weißwurst- ist auch ein Grünkohl-äquator. Fragt man in Bayern nach Grünkohl, erntet man höchstens ein grantiges „Wos is’?“ Darum heißt der Grünkohl auch poetisch „Palme des Nordens“. Besonders in Westfalen und im Oldenburger Land wird ein wahrer Kult um den krausen Brassica veranstaltet.

Das rustikale Gericht bildet auch den Rahmen elitärer Gesellschaftsereignisse. In Münster machen Spitzen aus Wirtschaft und Politik beim traditionellen Kramermahl „Networking“ im Rathaus-Festsaal und genießen dabei deftigen Grünkohl. Dasselbe wird in Berlin serviert, wo sich Manager und Minister jährlich in der niedersächsischen Vertretung zum „Defftig Ollnborger Gröönkohl Äten“ versammeln.

Seit der ersten „Kohlfahrt“ des Turnervereins von 1859 hat sich im Landkreis Oldenburg ein üppiger Strauß an „Events“ rund um den Grünkohl etabliert. Die Kreativität der Stadtmarketing-Mitarbeiter scheint unerschöpflich, wenn es um „Kohltur“ geht. Allerdings hat dort noch kein Veganer-Spinnertum Einzug gehalten: Der jährlich gekürte Kohlkönig wird mit einem Schweinekieferknochen am Ordensband geehrt.

Die historische Herkunft des Grünkohls ist unklar. Für die Griechen waren Kohlpflanzen die Tränen des mythologischen Lykurgos, der von Dionysos geblendet wurde. Die Römer aßen ihn in rauhen Mengen und bauten ihn systematisch an. Wann er in Deutschland auftauchte, liegt im Dunkel. Manche Forscher meinen, er kam aus dem Mittelmeerraum, andere sagen, von den Küsten des Nordens. Jedenfalls erfreute sich das pflegeleichte Gemüse im nahrungsarmen Winter schnell breiter Beliebtheit, wie Aufzeichnungen aus dem Mittelalter verraten.

Gourmetköche servieren Chips aus Grünkohlblättern

Inzwischen haben sich auch Gourmetköche dem grünen Krauskopf gewidmet und Kreationen wie Chips aus Grünkohlblättern oder Grünkohlsalat mit Gambas und Granatapfelessig erdacht, aber von solchen extravaganten Experimenten will der bodenständige Grünkohlesser nichts wissen. Schließlich paßt zum Grünkohl auch kein edler Wein, sondern ein kühles Helles und ein alter Klarer. Auf den bald kommenden Advents- und Weihnachtsmärkten wird der Grünkohl jedenfalls wieder traditionell serviert, gerne auch mit einem Klecks Senf.

Gerüchten zufolge soll der Grünkohl in jüngster Zeit nun doch seine Fühler in den Süden Deutschlands ausstrecken. In München gibt es die fremde Spezialität bereits in einigen Viktualienläden und Restaurants unter der Bezeichnung „Friesischer Kohl“. Aber ohne Weißwurst, denn die schmeckt einfach nicht zu Grünkohl.

Dafür kann man Grünkohl auch mal mit Spätzle oder Knödeln probieren. Oder als Auflauf mit Kartoffelscheiben. Neben Rauchsalz und Pfeffer geben auch Muskat und Kümmel dem Grünkohl eine interessante Note. Für jede Rezeptvariante aber gilt: Am besten ist er aufgewärmt!

www.kohltourhauptstadt.de

Foto: Mit Pinkel, Kaßler, Speck und Knödeln sowie einem kühlen Hellen: Ob zu Hause oder als frierender Passant in der Innenstadt – ein Genuß

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