© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/14 / 28. November 2014

An das Vergessene erinnern
Wenn der Schleier der Zeit zerreißt: Zum 70. Geburtstag des Schriftstellers Botho Strauß
Michael Wiesberg

Ernst Jünger prägte einmal das schöne Bonmot „Es gibt Lektüren, die Impfungen gleichen.“ Zu dem Kanon dieser Lektüren darf getrost auch das Werk des Dichters und Theaterdramatikers Botho Strauß gezählt werden, der am 2. Dezember 70 Jahre alt wird. Strauß hängt seit langem der Geruch an, ein „elitärer Außenseiter“ zu sein, der nach Meinung mancher seiner Kritiker obendrein dem Gedankengut der Konservativen Revolution verdächtig nahe kommt.

Auf deutschsprachigen Bühnen ist der in den 1970er und 1980er Jahren so gefeierte Theaterdramatiker Botho Strauß mittlerweile kaum noch präsent. Er selbst hat das unmißverständlich in die Worte gesetzt: „Das Theater hat mich hinter sich gebracht. Auf der Bühne habe ich ein Erotiker sein wollen, heute dominieren die Pornographen.“ Peter Stein, neben Luc Bondy oder Dieter Dorn wohl einer der Theaterregisseure, die sich am intensivsten mit dem dramatischen Werk von Botho Strauß auseinandergesetzt haben, wies gegenüber der Welt darauf hin, daß Pornographie nichts mit Sex zu tun haben müsse. Es gebe nämlich auch eine „intellektuelle Pornographie“, „in der keine einzige Titte und kein Penis vorkommt“. Strauß meine damit, daß man sich gegenwärtig auf deutschen Bühnen dümmer stelle, als es notwendig sei. „Einseitiges Gekrähe“ hindere die Schauspieler „in den großen Möglichkeiten ihrer Berufsausübung, schädigt sie“.

Dieser Hintergrund erhellt, warum Strauß seit etwa Mitte der 1990er Jahre immer weniger als Theaterdramatiker, dafür aber um so mehr als Schriftsteller in Erscheinung tritt. Genannt seien hier unter anderem folgende Arbeiten, die häufig verschlüsselte Titel tragen: „Wohnen Dämmern Lügen“ (1994), „Die Fehler des Kopisten“ (1997), „Das Partikular“ (1999), „Der Untenstehende auf den Zehenspitzen“ (2004), die Novelle „Die Unbeholfenen“ (2007), das Theaterstück „Leichtes Spiel“ (2009), „Vom Aufenthalt“ (2009) und zuletzt „Die Lichter des Toren. Der Idiot und seine Zeit“ (2013) sowie im September dieses Jahres „Herkunft“.

Die „Lichter des Toren“ reflektieren unter anderem die „totale Außenseiterposition“, mit der Strauß auch und vor allem seinen eigenen Standort bestimmt haben dürfte. Er benutzt zur Kennzeichnung dieser Position den Begriff „Idiot“, der allerdings auf seine ursprüngliche Bedeutung zurückgeführt werden muß, um zu erhellen, um was es Strauß hier geht. „Idiot“ bezeichnet im Altgriechischen die Privatperson, die sich aus den öffentlichen und politischen Angelegenheiten heraushält und abgeschieden im Verborgenen lebt.

Wenn Strauß hier und da nahelegt, im Verborgenen zu leben, fühlt man sich an den griechischen Philosophen Epikur und seine Adepten erinnert, für die der Rückzug aus der Öffentlichkeit und das abgeschiedene Leben in Selbstgenügsamkeit wichtige Aspekte der Lebenshaltung waren; eine Position, die Strauß als „rechts“ bezeichnet: „Rechts kann nur der Neugierige abseits stehen.“

Im weiteren gibt Botho Strauß eine wichtige Positionsbestimmung für das Verständnis seines Denkens, wenn er „reaktionär“ von „konservativ“ zu unterscheiden versucht: „Der Reaktionär ist Phantast, Erfinder, der Konservative dagegen ein Krämer des angeblich Bewährten.“

Im Mittelpunkt seines jüngsten Büchleins „Herkunft“ (JF 42/14) steht vor allem die Figur des Vaters – und seine Schulzeit in einem Kurort, der seine beste Zeit im 19. Jahrhundert hatte: Bad Ems an der Lahn. Hierher hatte es Strauß’ Familie nach der Übersiedelung aus Naumburg, wo Botho Strauß 1944 geboren wurde, verschlagen. Dem standesbewußten Vater drohte als Unternehmer im „Arbeiter- und Bauernparadies“ DDR die Enteignung; er entschloß sich für einen Neuanfang in der Bundesrepublik, hatte aber erhebliche Mühe, die Familie nach der Übersiedelung finanziell über Wasser zu halten.

Auch in diesem Werk findet sich ein Begriff, der Strauß als Antithese zur „Totalherrschaft der Gegenwart“ dient, nämlich Erinnerung. Bereits 1989 hatte Strauß in seiner Rede zur Verleihung des Büchner-Preises apodiktisch erklärt: „Anamnesis, nichts sonst ist Dichterpflicht.“

Anamnesis ist das altgriechische Wort für Erinnerung und gehört zu den zentralen Topoi in Platons Philosophie. Platon vertrat die Auffassung, daß der menschliche Intellekt kein neues Wissen erschafft, sondern sich nur an das vergessene erinnert. Somit beruht jede Erkenntnis auf Erinnerung. Das Wissen stehe der Seele zwar immer potentiell zur Verfügung, sie hat aber für gewöhnlich keinen Zugriff darauf. Ein Zugang entsteht, wenn das vergessene Wissen durch äußere Anstöße wieder in das Bewußtsein gehoben wird. Durch die Anstöße, die ein Lehrer – man wird mit Blick auf Strauß ergänzen dürfen: Dichter – gezielt gibt, erinnert sich die Seele des Lernenden an etwas, das ihr eigentlich bereits vertraut ist.

Erinnerung wird bei Strauß also in einem vielfacettigen Sinn gebraucht; sie ist nicht deckungsgleich mit der historischen Erinnerung, sondern im Sinne der poetischen Erinnerung an einen mythischen, außerhistorischen Zustand zu verstehen, wie er in der deutschen Romantik, der Strauß in vielfältiger Weise verpflichtet ist, gepflegt wurde. Die Pflege dieser Erinnerung hatte Strauß wohl im Blick, als er von „Anamnesis als Dichterpflicht“ sprach.

Erinnerung ist im Gedächtnis eingelagert, über dessen Funktion Strauß in „Herkunft“ anmerkt: „Das Gedächtnis ist eine Variable der Sehnsucht, so daß Fernweh und Heimweh, Erwartung und Erinnerung in ein und demselben ‘Enzym’ des Unerreichlichen symmetrisch angeordnet sind.“ Eine Aufgabe des Enzyms ist es, die Zellversorgung zu gewährleisten, giftige Stoffe zu entfernen oder abzubauen, andere zu mobilisieren. Kurz: Enzyme beschleunigen Prozesse, die zur Gewinnung der für den Organismus nötigen Energie erforderlich sind. Strauß versteht die im Gedächtnis eingelagerte Erinnerung also offensichtlich als einen zentralen Bestandteil geistiger Zellversorgung, der für den seelischen Haushalt des Menschen unabdingbar ist. Indem der Dichter die Erinnerung wachruft, kann der Leser für den Moment der Lektüre die Sehnsucht stillen.

Mit seinem hochkomplexen Werk, dessen Spannbreite auch Reflexionen über Bionik, Genetik, Quantentechnik oder die Chaostheorie umfaßt, kommt Botho Strauß dem Dichterideal des Poeta doctus nahe. Zu hoffen bleibt, daß die Lektüre seiner Schriften noch viele Jahre gegen die geistige Eindimensionalität der „Totalherrschaft der Gegenwart“ impfen möge.

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