© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/14 / 28. November 2014

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

ARD-Themenwoche „Toleranz“, zum ersten: Was wirklich fehlte, war Robert Longs Lied „Morgen sind wir tolerant“ aus dem Jahr 1984 mit dem unsterblichen Kehrvers: „Morgen sind wir tolerant, tolerant, tolerant / und finden selbst die größten Idioten interessant / wir reichen jedem Arsch die Hand, und was uns stört in diesem Land / das wird ab morgen nicht mehr eine Schweinerei genannt. / Ab morgen sind wir positiv, und nicht mehr so auf dem qui-vive / wir rücken nichts mehr gerade, nein, wir lassen alles schief, na klar! / Fortan glauben wir an Lügen, weil sie in der Zeitung steh’n / greifen nichts mehr mit Kritik an – was geht uns die Politik an? / Haben wir uns nicht schon oft genug die Finger dran verbrannt? / Das wird anders: morgen sind wir tolerant.“

Fortschritt, unbestreitbar: verringerter Durchmesser von Injektionsnadeln, automatische Stationsansage in öffentlichen Verkehrsmitteln, Spätburgunder aus dem Nahe-Tal.

Wenn jetzt herauskommt, daß die Summe, die Ex-Kanzler Gerhard Schröder von dem Medienunternehmer Maschmeyer erhalten hat, mit zwei Millionen Euro doppelt so hoch war wie angegeben und schon während seiner Amtszeit vereinbart wurde, ist man nicht wirklich überrascht. Aber es wäre doch an der Zeit, zu prüfen, in welchem Verhältnis die linksradikalen Ideen des jungen Schröder zur späteren Begeisterung für hemmungsloses Geldverdienen stehen: Ist das wachsender Realitätssinn, aus der Machtpraxis geborener Zynismus oder der permanente Kurzschluß zwischen den Möglichkeiten individueller Vorteilsnahme und ideologischem Überbau?

Die neuerliche Auseinandersetzung um die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nimmt bizarre Formen an. Ganz offenbar ist die auf den ersten Blick so geschickte Strategie von Erika Steinbach, alle möglichen, auch tendenziell ablehnenden, gesellschaftlichen Gruppen einzubinden, gescheitert. Und wenn man hinter den Querelen mehr vermuten darf als professorale Eitelkeiten oder Ehrgeiz oder Zensurwünsche historisch-korrekter Art, dann geht es offenbar um die Unmöglichkeit, die historische Dimension der Vertreibungen klarzustellen. Deshalb hier ein Vorschlag zur Rekonstruktion der Kausalkette: 1) ethnische Säuberungen unter Einschluß von Massakern an Eliten oder ganzen Bevölkerungsgruppen hat es als politisch-militärische Maßnahme seit je, in jedem Fall seit der Antike, gegeben; 2) im Mitteleuropa des 20. Jahrhunderts war der eigentliche Auslöser des entsprechenden Vorgehens die gegen das besiegte Deutschland gerichtete Politik der Entente, die 3) nach dem Ersten Weltkrieg zur Vertreibung von Deutsch-Elsässern und Deutsch-Lothringern, Bewohnern der Provinzen Westpreußen und Posen sowie Oberschlesiens führte; 4) damit war eine Hemmschwelle gefallen, die sich nicht wiederherstellen ließ, was 5) in letzter Konsequenz zur Folge hatte, daß „Bevölkerungsverschiebungen“ von totalitären (Sowjetunion, Deutschland nach 1933) wie autoritären (Polen) wie demokratischen Regimen (Tschechoslowakei, Großbritannien, die USA) als denkbar angesehen und mehr oder weniger skrupellos umgesetzt wurden und 6) die von Polen, der Tschechoslowakei, der Sowjetunion, Großbritannien und den USA zu verantwortende Ausmordung und Vertreibung der Ostdeutschen sowie der deutschen Bevölkerungsgruppen Ostmitteleuropas zur Folge hatte.

Fortschritt, ausgeschlossen: der Taschenfüllhalter, das von einer liebenden Ehefrau geplättete Oberhemd, Riesling vom Disibodenberg.

ARD-Themenwoche „Toleranz“, zum zweiten: In der Radio-Kolumne „Stimmt’s“ ging es um die Frage, ob in den Südstaaten der USA vor 1865 tatsächlich auch schwarze Sklavenhalter schwarze Sklaven besessen hätten, was wahrheitsgemäß bejaht wurde. Der Verfasser Christoph Drösser konnte sich aber die Belehrung nicht verkneifen, daß diese Tatsache natürlich nichts daran ändere, was „die Weißen“ „den Schwarzen“ angetan hätten. Es ist nun ganz langweilig, mit dem Hinweis zu kommen, welch fatale Folgen solche Kollektivurteile haben können, aber es sei doch erwähnt, daß der Einsatz von schwarzen Sklaven in den beiden Amerika und in der Karibik nur möglich war, weil schwarze Sklavenjäger sie gefangen und zusammengetrieben hatten, bevor schwarze (fallweise: arabische) Sklavenhändler sie an die Europäer auslieferten. Nebenbei: Die von einigen weißen amerikanischen Philanthropen in Westafrika gegründete Kolonie „Liberia“, in der man seit 1822 Freigelassene ansiedelte, entwickelte prompt eine Art Kastengesellschaft, in der die schwarzen Neuankömmlinge die Oberschicht, die schwarzen Einheimischen die Rechtlosen waren. Ein Zustand, der erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts formell, erst Ende des 20. Jahrhunderts faktisch bereinigt wurde, ohne daß der Faktor Rassensolidarität irgendeine erkennbare Rolle spielte.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 12. Dezember in der JF-Ausgabe 51/14.

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