© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/14 / 28. November 2014

Gegen große Widerstände im In- und Ausland
Vor 25 Jahren ergriff Bundeskanzler Helmut Kohl mit seinem Zehn-Punkte-Plan die Initiative in Richtung deutscher Wiedervereinigung
Thorsten Hinz

Die Mauereröffnung am 9. November 1989 war eine kopf- und planlose Aktion der SED-Führung gewesen. Falls sie sich einen Befreiungsschlag davon erhofft hatte, sah sie sich schnell widerlegt. Die Mauer als Instrument und Symbol der Unterdrückung war zwar außer Kraft und die DDR-Bevölkerung in Freiheit gesetzt, doch erwuchs daraus keine staatsbürgerliche Loyalität mehr, im Gegenteil.

Jeder konnte sich nun von der Höhe des Ost-West-Gefälles überzeugen. Gerade die Jungen und Agilen stellten sich die Frage, ob sie sich die Lebensverhältnisse in dem vermeintlich „zehntgrößten Industrieland der Erde“ weiter zumuten wollten. Die für den Staat lebensbedrohliche Abwanderung hielt unvermindert an. Vor diesem Hintergrund wurde am 13. November auf der Leipziger Montagsdemonstration der Ruf „Wir sind das Volk“ erstmals in „Wir sind ein Volk“ abgeändert.

Es ist unerheblich, ob das neue Motto auf Einflüsterungen aus dem Westen zurückging. Die Demonstranten und Übersiedler waren instinktiv davon überzeugt, daß alles andere als die Wiedervereinigung die schlechtere Alternative war. Sie brachten den „Zug der Einheit“, von dem der SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt sprach, mit der Wucht einer Naturkraft ins Rollen.

Es war das erste Mal, daß eine Entscheidung der DDR-Führung international für Sympathien sorgte, doch mit der Kontrolle über das Grenzregime hatte sie auch ihr wichtigstes außen- und deutschlandpolitisches Pfund aus der Hand gegeben. Am 20. November traf Kanzleramtsminister Rudolf Seiters in Ost-Berlin mit Staats- und Parteichef Egon Krenz und Ministerpräsident Hans Modrow zusammen. Die beiden SED-Politiker hielten an der Eigenständigkeit der DDR fest und wollten die besonderen Beziehungen zur Bundesrepublik innerhalb einer Verantwortungs- und Vertragsgemeinschaft festgeschrieben wissen. Faktisch aber traten sie als Bittsteller auf. Das wichtigste Tauschobjekt, über das Ost-Berlin noch verfügte, war die Aussicht auf die Öffnung des Brandenburger Tores. Die Autorität des Staates tendierte innen- wie außenpolitisch gegen Null. Für die Bundesrepublik wurde das zu einem immer größeren Problem.

Europäische Partnerländer reagierten durchweg negativ

Die Macht lag in der DDR auf der Straße, doch es fand sich niemand, der sie aufhob. Die politische Initiative zur Wiedervereinigung mußte also von Bonn ausgehen. Doch hier war niemand darauf vorbereitet. Im Grunde hatten sich die meisten politischen Akteure in allen Parteien mit der Teilung abgefunden, und nicht wenige bejahten sie als „Strafe“ für den Nationalsozialismus, was ihnen um so leichter fiel, weil andere sie abbüßten. Bei manchen stand auch schlichtweg Resignation dahinter. Selbst Willy Brandt nannte die Hoffnung auf die Wiedervereinigung die „Lebenslüge“ der zweiten deutschen Republik, und in der Tat hatten alle großen Weichenstellungen – der Deutschland-Vertrag, die Pariser und die Römischen Verträge, die Nato-Mitgliedschaft – den Graben zwischen beiden deutschen Staaten immer mehr vertieft.

Parteiübergreifend beschränkte man sich darauf, die Folgen der Teilung pragmatisch zu lindern. Als der CDU-Bundestagsabgeordnete Bernhard Friedmann 1987 das Buch „Einheit statt Raketen“ mit Thesen zur Wiedervereinigung Deutschlands vorlegte und eine operative Politik dazu forderte, sprach Kanzler Helmut Kohl von „blühendem Unsinn“ – was er in seinen Memoiren geflissentlich unterschlägt.

Doch jetzt geschah Erstaunliches. Kohls Absage war keine grundsätzliche gewesen. Als sich die realistische Chance zur Einheit bot, griff er mit einer Entschiedenheit zu, die niemand ihm zugetraut hatte. Er galt zu dem Zeitpunkt als angeschlagen, als „Aussitzer“, konzeptloser Machtmensch, als Kanzler auf Abruf. Im September auf dem CDU-Bundesparteitag war ein Putsch gegen ihn knapp gescheitert. Anschließend hatte er sich einer Prostata-Operation unterziehen müssen. Das Interesse für die DDR war dem gebürtigen Pfälzer auch nicht gerade in die Wiege gelegt worden. Das Manko wurde allerdings durch seine Ehefrau Hannelore ausgeglichen, die in Leipzig aufgewachsen war.

Im Ausland hatte man viel schneller als in der Bundesrepublik begriffen, daß der Mauerfall das Ende der deutschen Zweistaatlichkeit einleitete. Kohl registrierte die Unruhe, die diese Aussicht bei den Nachbarn auslöste. Bis auf Irland und Spanien reagierten die europäischen Partnerländer durchweg negativ. Frankreichs Präsident François Mitterrand beraumte für den 18. November einen Sondergipfel in Paris an, wo es zu einer heftigen Konfrontation mit der britischen Premierministerin Margaret Thatcher kam.

Kohl erklärte ihr apodiktisch, auch sie könne „das deutsche Volk nicht daran hindern, seinem Schicksal zu folgen“. Immerhin hatten die USA von Anfang an ihr Einverständnis signalisiert – unter der Voraussetzung, daß die Bundesrepublik in der Nato und in der EU (damals noch: Europäische Gemeinschaft/ EG) verblieb. Die Position der Sowjet-union wurde zunehmend beweglicher. Neben Wirtschafts- benötigte Moskau auch Lebensmittelhilfen aus dem Westen. Allerdings war Eile geboten, denn ein Putsch der Generäle gegen Michail Gorbatschow schien jederzeit möglich. Außerdem verstand Kohl den Pariser Gipfel als „Warnung“, daß London und Paris versuchen könnten, die Russen zu einem Veto gegen die Wiedervereinigung zu bewegen.

Kohl entschloß sich zur Offensive und arbeitete ab dem 23. November im engsten Beraterkreis einen Stufenplan aus, den er fünf Tage später im Bundestag vortrug und der als Zehn-Punkte-Programm bekannt wurde. Um Indiskretionen vorzubeugen, informierte er nicht einmal seinen Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Die Botschafter Frankreichs, Großbritanniens und der Sowjetunion erhielten den Text am Morgen der Bundestagsdebatte. Nur US-Präsident George Bush wurde vorab in einem chiffrierten Schreiben informiert.

Gleich im ersten Satz verkündete Kohl, daß er den „Weg zur deutschen Einheit“ beschreiten wolle. In zehn Punkten entwickelte er seine Vorstellung von einer allmählichen Annäherung beider deutschen Staaten. Eine immer engere wirtschaftliche und vertragliche Verflechtung sollte konföderative Strukturen vorbereiten. Nach dem Beitritt osteuropäischer Reformstaaten zur EG und Abrüstungsvereinbarungen im Rahmen der KSZE sollte schließlich die staatliche Einheit herbeigeführt werden.

Das war eine maßvolle, auf mehrere Jahre und europäisch angelegte Vision. Kohl wollte unbedingt vermeiden, daß ein vereintes Deutschland in Europa erneut in die Isolation geraten würde. Diese Furcht teilte er übrigens mit Günter Grass, der in der Wochenzeitung Die Zeit die staatliche Einheit ablehnte und damit einer Vielzahl bundesdeutscher Intellektueller aus dem Herzen sprach, denen die Vision einer Wiedervereinigung zuwider war. „Wir werden wieder einig, stark und – selbst beim Versuch, leise zu sprechen – laut vernehmlich sein. Schließlich (...) wird es uns gelingen, mit bewährt harter D-Mark (...) nach deutschem Bilderbuchmuster – wieder einmal zum Fürchten und isoliert sein.“ Kohl hegte gewiß ähnliche Gedanken, doch er zog daraus gegenteilige Konsequenzen.

Die D-Mark wurde zur Beschwichtigung geopfert

Sein Zehn-Punkte-Programm war – bei aller Rücksichtnahme – eine souveräne Geste, die einem deutschen Kanzler nach Meinung der EG-Partner nicht zustand. Beim EG-Gipfel am 8. und 9. Dezember in Straßburg sah er sich einer „tribunalartigen Befragung“ und offener Ablehnung ausgesetzt. „Der Lack und die Tünche, die jahrzehntelang aufgetragen worden waren, sprangen plötzlich auf und blätterten ab.“

Unterdessen bekam die Entwicklung in der DDR eine unbezwingbare Dynamik. Kohl gelang es, die Energien zu kanalisieren, so daß Vollzug der staatlichen Einheit schneller über die Bühne ging, als selbst die größten Optimisten erwartet hatten. Das war seine staatsmännische Leistung.

Damit war aber auch die deutsche Frage zurückgekehrt. Wie nach der Reichsgründung 1871 war Deutschland zu groß, um sich bruchlos in das Staatensystem einzufügen, aber zu klein, um als natürlicher Hegemon akzeptiert zu werden. Kohl versuchte das Dilemma aufzulösen, indem er die deutsche und die europäische Einigung zu den zwei Seiten derselben Medaille erklärte. Das traf in dieser Absolutheit jedoch nicht zu. Statt die D-Mark als strategisches Instrument einzusetzen, mit ihr Europa politisch zusammenzuführen und zum globalen Spieler zu machen, opferte er sie zur Beschwichtigung der EU-Partner. Die Folgen sind bekannt und werfen jeden Tag neue Probleme auf. Der historischen Situation, in die Helmut Kohl gestellt war, zeigte er sich am Ende nur zur Hälfte gewachsen.

Foto: „Titanic“-Titel vom November 1989: DDR-Bürger als Zielscheibe des Spotts; Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) stellt während der Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag in Bonn am 28. November 1989 den Zehn-Punkte-Plan vor; Vereinigungskritiker François Mitterrand, Maggie Thatcher (r.): „Das deutsche Volk nicht daran hindern, seinem Schicksal zu folgen“; Günter Grass: Deutschland wird „wieder einmal zum Fürchten und isoliert sein“; Wir sind ein Volk – Plakat aus Leipzig von 1989: Mit der Wucht einer Naturkraft

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