© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/14 / 28. November 2014

Damit flog eine deutsche Erfolgsoperation auf
„Venlo-Zwischenfall“ 1939: Die Entführung britischer MI6-Agenten aus den Niederlanden entpuppte sich später als deutsches Eigentor
Helmut Roewer

Am 27. November 1939 stand es im Völkischen Beobachter: „Der Secret Service – die größte Verbrecherorganisation der Welt.“ Diese starken Worte erschienen der Redaktion auf der Frontseite des Blatts angebracht, denn es verkündete zugleich, die beiden britischen Geheimdienst-Residenten Sigismund Payne Best und Richard Stevens seien die Drahtzieher des Anschlags auf Hitler im Bürgerbräukeller am 8. November (JF 46/14) gewesen, und sie befänden sich deswegen jetzt in deutschem Polizeigewahrsam.

Diese Schuldzuschreibung stimmte mit der Wirklichkeit nicht überein. Auch die angebliche Festnahme der beiden war eine handfeste gewaltsame Entführung einen Tag nach dem Attentat aus einem an der Grenze bei Venlo gelegenen Café vom holländischen Boden nach Deutschland. Das beteiligte Gestapo-/SD-Kommando unter Walter Schellenberg agierte auf Weisung Hitlers. Und so gibt es denn auch kaum eine Gesamtdarstellung über den Zweiten Weltkrieg, in der diese Entführungsgeschichte nicht als deutsches Verbrechen auftaucht.

Nach einem Blick in die einschlägigen Akten aus Rußland, Deutschland, England und Holland stellt sich die Sache etwas komplexer dar. Am Anfang stehen die Operationen von drei deutschen, weitgehend unabhängig voneinander agierenden Nachrichtendiensten. Da waren die militärische Abwehr und das private Jahnke-Büro, die gegen den britischen Auslandsdienst MI6 vorgingen. Zutreffend nahmen sie an, daß der Hauptstützpunkt des MI6 bei dessen Operationen gegen Deutschland in Holland zu suchen und zu finden war. Für die Enttarnung der britischen Geheimdienst-Strukturen hatte das Jahnke-Büro gesorgt, das einen britischen Verräter aus dem Innern des MI6 an die geheimdienstliche Angel genommen hatte.

Bestehender Kontakt zu den Briten wurde gekappt

Auf diesen Informationen baute die Abwehr auf, die mit mehreren Arbeitseinheiten in das britische Holland-Netz eindrang und einen um den anderen der in Deutschland und Holland operierenden Agenten unschädlich machte. Es war ein Mix aus Festnahmen und kontrolliertem Weitermachenlassen. Fortan bestimmte das Oberkommando der Wehrmacht, welche Rüstungsdaten, speziell zum U-Boot-Bau, bei den Briten anlangten und welche nicht.

Mit den Festnahmen kam die Gestapo ins Spiel, parallel hierzu operierte sie in Benelux, wobei sie ganz andere Zielpersonen im Blick hatte, nämlich Emigranten jeglicher Art, die vom Ausland her gegen Deutschland agierten. Das Feindbild der Gestapo änderte sich, als klar wurde, daß eine erhebliche Zahl dieser Emigranten von Holland aus unter britischer Führung arbeitete.

Zusätzliche beunruhigende Erkenntnisse kamen aus Hermann Görings Abhörbehörde, dem Forschungsamt. Es berichtete über Verbindungen zwischen deutschen Militärpersonen und einem britischen Wer-auch-immer. So geriet der britische Dienst auch auf die Agenda der Gestapo. Um in dieses Geflecht einzudringen, kreierte deren oberster Chef Reinhard Heydrich einen gewissen „Hauptmann Schemmel von der Militäropposition“. In diese Rolle schlüpfte der junge ehrgeizige SD-Funktionär Walter Schellenberg, der soeben zum Chef der polizeilichen Spionageabwehr aufgerückt war. Er zog Zivil an und traf sich mehrfach mit den britischen Geheimdienstresidenten in Holland. Er spielte seine Rolle vortrefflich und belieferte die Briten mit deutschen Militärfunkgeräten, so daß eine Verbindung zwischen der Scheinopposition und der britischen Regierung zustande kam.

Aus Sicht des Geheimdienstes bahnte sich eine Sensation an: Der MI6 tanzte nach der deutschen Pfeife, und die britische Regierung verhandelte mit der deutschen Führung, ohne dies zu ahnen. Mit der Entführung von Payne Best und Stevens auf ausdrücklichen Befehl von Hitler brach diese kunstvolle Operation in sich zusammen. Zunächst war es noch so, daß den Briten keineswegs klar war, daß „Hauptmann Schemmel von der Militäropposition“, also ihr Draht nach Deutschland, und der Entführer Schellenberg ein und dieselbe Person waren.

Die „Verhandlungen“, nunmehr per Funk, gingen also weiter, doch jetzt mit deutlicher Zurückhaltung auf britischer Seite. Erst durch die Enthüllungen im Völkischen Beobachter wurde auch dem letzten Engländer klar, daß man sich bis auf die Knochen blamiert hatte. Doch das war kein Grund für deutsches Hurrageschrei. Im selben Moment, als die deutsche Führung so dringlich nach einem heimlichen Kanal zur britischen suchte, um den Krieg zu beenden, war dieser Kanal zugeschüttet worden. Zudem: In dem Moment, als Englands Führung nach dem Desaster des Polenfeldzugs schwankte, ob nicht die Kriegserklärung an Deutschland ein Fehler gewesen war, erhielten die Zögernden einen Schlag, der ihren Willen zum Kompromiß zerstörte. Englands Führung entschied sich nun endgültig für den Krieg.

Übrigens kämpfte auch die Gegenseite mit ähnlich harten Bandagen: In genau denselben Tagen der gewaltsamen Entführung der MI6-Agenten aus Holland beschloß die britische Führung, einen Abwehr-Offizier nach Holland zu locken, in eine Kiste zu verpacken und nach England zu transportieren, um dort aus ihm die Wahrheit über die deutschen Operationen herauszuprügeln. Der Plan mißlang – nicht wegen moralischer Bedenken, sondern weil er von Doppelagenten an die deutsche Seite verpfiffen worden war.

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