© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/14 / 05. Dezember 2014

Hirntod, personelle Selbstverwirklichung und Organtransplantation
Dahinvegetieren beenden
Manfred Stöhr

Die Transplantationsmedizin ist in den letzten Jahren durch Unregelmäßigkeiten bei der Organvergabe in Mißkredit gekommen. So inakzeptabel derartige Praktiken sind, sollte man den betreffenden Ärzten zugute halten, daß ihre Motive uneigennützig waren und nur dazu dienten, den eigenen Patienten vorzeitig zu einem Spenderorgan zu verhelfen. Bedauerlicherweise führte dieser Skandal zu einem drastischen Rückgang von Organspenden, so daß Tausende chronisch Kranker noch länger als bisher vertröstet werden müssen, teilweise sogar den rettenden Eingriff nicht mehr erleben werden.

Verschärft wird diese Entwicklung durch zunehmende Kritik am Konzept des Hirntodes. Bekanntlich können Organe nur von Menschen entnommen werden, die als hirntot – und damit tot als menschliche Wesen – eingestuft werden, deren Kreislauf und Atmung jedoch auf künstliche Weise aufrechterhalten werden, um das kurzfristige Überleben innerer Organe (Nieren, Leber, Herz und andere) zu gewährleisten. Deren Entnahme und anschließende Verpflanzung ist für viele chronisch kranke Patienten die einzige Überlebenschance, was deren sehnsüchtiges Warten auf ein geeignetes Spenderorgan verständlich macht.

Kritische Äußerungen über die seit Jahrzehnten geltenden Regelungen zur Feststellung des Hirntodes gipfeln in der ungeheuerlichen Behauptung, eine Transplantationsmafia würde überlebensfähige Patienten unrechtmäßigerweise für tot erklären, nur um in den Besitz von deren Organen zu gelangen. Diese Aussage entbehrt schon deshalb jeglicher Grundlage, da die Hirntod-Diagnostik von Neurologen durchgeführt wird und Transplantationsmediziner daran weder indirekt noch gar direkt beteiligt sind.

Da in der Bevölkerung durch derartige Publikationen eine große Unsicherheit in bezug auf Organspenden eingetreten ist, scheint eine Aufklärung über den Hirntod und dessen Feststellung vordringlich, zumal dadurch auch die gegenwärtige Praxis der Organentnahme legitimiert wird.

Als erstes ist zu fragen: Welche Krankheiten führen eigentlich zum Hirntod? Grundsätzlich können unterschiedliche chronische und akute Hirnerkrankungen in diesen Zustand einmünden, wobei schwere Schädel-Hirn-Verletzungen die häufigste Ursache bilden. Viele davon betroffene Unfallopfer versterben nicht schon am Unfallort, sondern erreichen lebend die Klinik und werden dort intensivmedizinisch betreut.

In besonders schweren Fällen versagen die therapeutischen Maßnahmen, und es entwickelt sich eine zunehmende Hirnschwellung (Hirnödem). Da das Gehirn in den unnachgiebigen knöchernen Schädel eingebettet ist, führt dies zu einer intrakraniellen Drucksteigerung, die ihrerseits eine Kompression der Hirngefäße bedingt, bis schließlich die Hirndurchblutung zum Erliegen kommt. Das Herz pumpt das Blut noch in die Halsarterien, aber bei deren Eintritt in die Schädelbasis kommt es zu einem Stopp, gut sichtbar am Abbruch der Blutsäule im Angiogramm (Gefäßbild).

Der Eintritt des Hirntodes wird zu Recht mit dem Tod des menschlichen Individuums gleichgesetzt. Was bei künstlicher Beatmung und Kreislaufstabilisierung für begrenzte Zeit zurückbleibt, ist kein Mensch, sondern ein Kunstprodukt der Intensivmedizin.

Um einer derartigen Entwicklung Einhalt zu gebieten, werden außer der Standardtherapie manches Mal „heroische Maßnahmen“ durchgeführt, wie dies bei dem Skiunfall-Opfer Michael Schumacher durch die Presse ging. Indem man den oberen Teil des knöchernen Schädels durchsägt („Entdeckelung“), kann sich das anschwellende Gehirn durch Anhebung des „Deckels“ ausdehnen, wodurch die fatale Druckerhöhung gemindert wird. Als begleitende – in ihrer Wirksamkeit umstrittene – Maßnahme werden manche Patienten zusätzlich durch Betäubungsmittel in ein „künstliches Koma“ versetzt, um den Stoffwechsel der Hirnzellen und damit deren Sauerstoff- und Glucosebedarf zu vermindern.

Die Erfolge derartiger heroischer Eingriffe (manche sprechen auch von Verzweiflungstaten) halten sich in engen Grenzen. Gelegentlich entsteht der Eindruck, daß die Machtlosigkeit gegenüber bestimmten Krankheitsverläufen durch therapeutischen Übereifer kompensiert wird, wozu vorwiegend Mediziner mit Omnipotenzphantasien neigen. Selbst wenn dadurch der Tod eines Patienten manchmal vermieden wird, ist der letztlich verbleibende Zustand mit teils massiven geistigen und körperlichen Defektsymptomen unter Umständen schlimmer als der Tod.

Kommt es trotz aller therapeutischen Bemühungen zum Absterben des Gehirns, müssen dessen Konsequenzen im Hinblick auf das menschliche Dasein hinterfragt werden. Das Wunderwerk des menschlichen Gehirns mit seinen 100 Milliarden Nervenzellen, die untereinander ein gigantisches neuronales Netzwerk knüpfen, bildet die stoffliche Basis für alles bewußte und unbewußte seelische Geschehen, ist aber darüber hinaus auch das Zentrum für Atmung und Kreislauf sowie für die neurale und hormonelle Steuerung der inneren Organe. Ein Absterben des Gehirns bedeutet daher – aufgrund der Körper-Seele-Einheit – nicht nur eine Entseelung, sondern führt darüber hinaus zum Atemstillstand und zu einem Zusammenbruch von Kreislauf und Stoffwechsel, sofern diese nicht künstlich aufrechterhalten werden.

Der Eintritt des Hirntodes wird daher völlig zu Recht mit dem Tod des menschlichen Individuums gleichgesetzt. Was bei künstlicher Beatmung und Kreislaufstabilisierung für begrenzte Zeit zurückbleibt, ist kein Mensch, sondern ein Kunstprodukt der Intensivmedizin, das nur noch äußerlich als Mensch zu betrachten ist, ein biologischer Automat, dessen innere Organe bis zur Entnahme weiter durchblutet und funktionsfähig gehalten werden.

Da die Feststellung des Hirntodes eine unkorrigierbare Diagnose bedeutet, wurden von der Bundesärztekammer verbindliche Richtlinien festgelegt, um Fehldiagnosen mit absoluter Sicherheit zu verhindern. Hierzu zählen die zweimalige Untersuchung des Betroffenen durch intensivmedizinisch geschulte Neurologen im Abstand von 24 Stunden. Obwohl damit bereits eine eindeutige Diagnose möglich ist, werden zusätzliche apparative Methoden eingesetzt, die gleichfalls den unumkehrbaren Funktionsausfall sämtlicher Hirnfunktionen belegen, wie zum Beispiel ein Ausfall der Hirnströme (Nullinien-EEG) oder fehlende Hirnreaktionen auf Sinnesreize (Evozierte Potentiale).

Schließlich beweist die Feststellung einer fehlenden Hirndurchblutung den Untergang sämtlicher Nervenzellen des Gehirns, da diese wegen fehlender

Energiereserven auf eine ständige Blutzufuhr angewiesen sind und bei deren Unterbrechung innerhalb von 10 bis 15 Minuten absterben. Bei einer derartigen Befundkonstellation gibt es nicht mehr den geringsten Zweifel am Vorliegen des Hirntodes, und jedem immer noch uneinsichtigen Zeitgenossen kann man seinen Irrtum in kürzester Zeit beweisen – durch Abschalten des Beatmungsgerätes.

Bekanntlich gibt es Personen, deren ideologische Verbohrtheit auch durch handfeste Beweise nicht zu erschüttern ist. So erzählt Mathias von Gersdorff das Märchen von einem bei Hirntoten „quicklebendigen Hypothalamus“ („Pragmatisch eine Grenze ziehen“, JF 48/13), obwohl dieser noch früher abstirbt als der tieferliegende Hirnstamm. Der Hobby-Neurologe Georg Meinecke behauptet, die Hirntoddiagnostik sei mit tödlichen Risiken für den Patienten verbunden, und David Evans, emeritierter fachärztlicher Berater für Kardiologie in Cambridge, erhebt die geradezu ungeheuerliche Anschuldigung, daß 60 Prozent der angeblich Hirntoten das Bewußtsein wiedererlangen könnten.

Man könnte derartige dilettantische Äußerungen auf sich beruhen lassen, wenn sich daraus nicht eine Verunsicherung potentieller Organspender ergeben würde, was im Hinblick auf Tausende chronisch kranker Patienten, die sehnlichst auf ein passendes Organ warten, dem ärztlichen Ethos widersprechen würde.

In deutschen Kliniken und Pflegeheimen herrscht eine Lebensschutzideologie, die ein Sterbenlassen in aussichtslosen Fällen massiv erschwert, so daß Angehörige oft jahrelang um die Beendigung eines längst sinnlos gewordenen Lebens kämpfen müssen.

Sofern es sich bei den oben erwähnten Äußerungen nicht um bösartige Unterstellungen handelt, kann es sich nur um eine Verwechslung des Hirntodes mit dem sogenannten Wachkoma handeln. Der Begriff Wachkoma ist paradox, da Koma (Bewußtlosigkeit) und Wachheit einander ausschließen. Seine Entstehung verdankt er der Tatsache, daß die allermeisten daran leidenden Patienten in der Akutphase bewußtlos sind, aber nach ein bis drei Wochen erwachen.

Was danach übrigbleibt, sind keine Bewußtseinsstörungen, sondern massive kognitive und motorische Defizite, was die Existenz auf einen vegetativen Zustand reduziert:

l Die Kranken erkennen weder sich selbst noch ihre Umgebung, mit der sie daher in keiner Weise kommunizieren, sondern völlig teilnahmslos dahinvegetieren.

l Sie zeigen weder zweckhafte Spontanbewegungen noch sinnvolle Reaktionen auf Außenreize.

l Sprachliche Äußerungen werden weder produziert noch verstanden.

Im Unterschied zum Hirntod ist beim Wachkoma nicht das gesamte Gehirn, sondern nur das Großhirn ausgefallen. Ein solcher Zustand findet sich beispielsweise im Gefolge schwerer Hirnverletzungen oder Hirnblutungen; wesentlich häufiger tritt er jedoch nach einer „erfolgreichen“ Reanimation auf, die zeitig genug erfolgt, um die tiefer liegenden Hirnregionen zu retten, jedoch zu spät, um das Absterben des empfindlicheren Großhirns verhindern zu können. Ausgefallen sind damit Wahrnehmungen, Gefühle, Denkabläufe, Entscheidungsfähigkeit und Willkürmotorik, während automatische und reflexhafte Bewegungen, Atmung, Kreislauf und Schlaf-Wach-Rhythmus erhalten sind.

Ein Dahinvegetieren im Wachkoma kann sich bei jungen Patienten noch nach einjährigem Bestehen bessern; in aller Regel ist allerdings nach dreimonatiger Dauer keine Besserung mehr zu erwarten, so daß von einem „permanenten vegetativen Syndrom“ gesprochen wird. Bei guter Betreuung kann dieser Zustand Jahre, gelegentlich sogar ein bis zwei Jahrzehnte überlebt werden, wobei man sich fragen muß, ob man den Betroffenen damit einen Dienst erweist. Es dürfte kaum einen Menschen geben, der nicht lieber tot wäre, als empfindungs- und willenlos, wahrnehmungs- und kommunikationsunfähig, als lebender Automat am Leben gehalten zu werden.

Der Strafrechter Albin Eser (Freiburg) verweist völlig richtig darauf, daß eine Lebensverlängerung nur sinnvoll sein kann, wenn ein Rest von personaler Selbstverwirklichung existiert, was mit Sicherheit bei Wachkomapatienten nicht mehr der Fall ist, so daß die ärztliche Verpflichtung zum Lebenserhalt erlischt – und zwar sowohl unter moralischen als auch rechtlichen Aspekten. Man sollte daher bei solchen Patienten lebensverlängernde Maßnahmen aus zwei Gründen unterlassen beziehungsweise beenden: Erstens handelt es sich bei einem Patienten mit völligem Verlust seiner geistigen Fähigkeiten nicht mehr um einen Menschen im Vollsinn des Wortes, und zweitens kann man unterstellen, daß der mutmaßliche Wille des Betroffenen gegen die Fortführung eines derartigen Dahinvegetierens gerichtet ist.

Bedauerlicherweise herrscht in deutschen Kliniken und Pflegeheimen eine Lebensschutz-Ideologie, die ein Sterbenlassen in derartigen Fällen massiv erschwert, so daß Angehörige oft jahrelang um die Beendigung eines längst sinnlos gewordenen Lebens kämpfen müssen. Unabhängig davon muß klargestellt werden, daß Wachkoma-Patienten nur an einem Verlust des Großhirns leiden und daß dieser Zustand nicht mit dem Hirntod verwechselt werden darf, da dieser völlig anderen rechtlichen Bestimmungen unterliegt und dessen Attestierung daher durch die strengstmöglichen Bestimmungen abgesichert wird.

 

Prof. Dr. Manfred Stöhr, Jahrgang 1939, studierte zunächst Humanmedizin und bildete sich anschließend weiter in Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Neben zahlreichen Sachbüchern publizierte er zwei populärwissenschaftliche Werke über Alternativmedizin und Anti-Aging. Die letzte Publikation über Hirnforschung und Geistesfreiheit erschien 2012 unter dem Titel „Der Mensch ist mehr als sein Gehirn“.

Foto: Patient mit abgestorbenen Gehirnzellen: Den mutmaßlichen Willen des Betroffenen achten

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