© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/14 / 05. Dezember 2014

Das wirkt bis heute nach
Optanten und Dableiber: Die Folgen des Hitler-Mussolini-Abkommens von 1939 über die Umsiedlung der Südtiroler spaltete die Volksgruppe
Wolfgang Schwank

Das Jahr 1939 ist für die Südtiroler besonders geschichtsträchtig und schicksalhaft. Am 21. Oktober beschlossen Hitler und Mussolini die Umsiedlung der Südtiroler aus ihrer Heimat. Bis zum 31. Dezember sollte der Vertrag umgesetzt sein. Nachdem das Deutsche Reich 1938 Österreich anschloß und das deutsche Staatsgebiet damit an das 1919 von Italien annektierte Südtirol angrenzte, hatten die Südtiroler Hoffnung gefaßt, daß ihr Land sehr bald, ähnlich wie Sudetendeutschland, an Deutschland fallen würde.

Doch es kam anders: Hitler opferte Südtirol für ein Militärbündnis mit Italien („Stahlpakt“). Am 7. Mai 1938 erklärte Hitler in Rom: „Es ist mein unerschütterlicher Wille und mein Vermächtnis an das deutsche Volk, daß es die von der Natur uns beiden aufgerichtete Alpengrenze immer als eine unantastbare ansieht.“ Damit wurde die vom italienischen Faschisten und Nationalisten Ettore Tolomei bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts propagierte „Wasserscheiden-Theorie“ amtlich von deutscher Seite aus bestätigt.

Mit der „Option“ bekamen die deutschsprachigen Südtiroler, die Ladiner, die Kanaltaler und die in den Provinzen Trient, Vicenza, Belluno, Verona und Udine lebenden Zimbern die Möglichkeit, sich für einen im wahrsten Sinne des Wortes bedingungslosen Verbleib in Italien oder für eine Aussiedlung nach Deutschland zu entscheiden. Als Termin für die Entscheidung wurde der 31. Dezember 1939 festgelegt.

Mit dem Hitler-Mussolini-Abkommen wollte Italien zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Einerseits sollte damit die Brennergrenze endlich anerkannt werden, und zum anderen wollten die Machthaber in Rom bezüglich der Italienisierung Südtirols endlich Nägel mit Köpfen machen, zumal ihre bisherige Politik der Assimilierung gescheitert war.

Spätestens seit Mussolinis Machtübernahme hatte sich der Assimilierungsdruck auf die deutsche und ladinische Bevölkerung erhöht. Die faschistischen Unterdrückungs- und Verfolgungsmaßnahmen durchdrangen alle Lebensbereiche der Südtiroler. Es begann mit der Namensgebung eines Kindes bei der Taufe und endete bei Namensänderungen auf den Grabsteinen (aus Joseph wurde Giuseppe etc.). Alles Deutsche sollte aus dem öffentlichen Leben Südtirols verschwinden. Am 15. Juli 1923 hatte Ettore Talmi im Bozener Stadttheater sein 32-Punkte-Programm zur Assimilierung der Südtiroler verkündet.

Anhaltende Angst vor weiterer Italienisierung

Zusätzlich wurden im großen Stil Italiener in Südtirol angesiedelt. Im Jahre 1910 betrug der italienische Bevölkerungsanteil in Südtirol 2,9 Prozent. 1961 war er bereits auf 34,3 Prozent angestiegen. Zwischen 1921 und 1939 wanderten 56.000 Italiener nach Südtirol ein. Am Ende dieser Periode hatten die Stadt Bozen und die Gemeinde Leifers südlich von Bozen eine mehrheitlich italienische Bevölkerung, was sich bis heute nicht geändert hat. In Bozen und Umgebung wurden riesige Flächen billig aufgekauft bzw. beschlagnahmt, Tausende Obstbäume gefällt, um eine Industrie aufzubauen, deren Arbeitsplätze Italienern vorbehalten waren. Diese Industriezone wurde staatlich subventioniert. Jeder italieni-sche Betrieb, der sich dort ansiedelte, wurde für zehn Jahre steuerfrei gestellt.

Neben der Industrialisierung Südtirols zum Zwecke der Italianisierung gab es aber auch Bestrebungen, die Südtiroler aus der Landwirtschaft zu verdrängen. Die Südtiroler Bauern wurden oftmals benachteiligt, so beispielsweise bei der Vergabe von Krediten. Das etablierte Tiroler Höferecht wurde 1929 abgeschafft. 1921 wurde die „Ente di Rinascita Agraria per le Tre Venezie“ (ERA), eine Teilorganisation des „Ente Nazionale per le Tre Venezie“ (ENTV) gegründet, um landwirtschaftliche Liegenschaften von Südtiroler Bauern billig aufzukaufen und mit Blick auf die geplante Massenzuwanderung von Italienern Grundbesitz anzusammeln. Eine größere Ansiedlung italienischer Bauern scheiterte jedoch.

Auch bei der Aussiedlung der Südtiroler nach 1939 spielte die „Ente Nazionale per le Tre Venezie“ eine große Rolle. Sie kaufte Land, Immobilien und Betriebe preisgünstig auf und nutzte die Zwangslage der Eigentümer skrupellos aus. Im Jahre 1943 gelangte auf diesem Wege beispielsweise der Laaser Marmor-Betrieb in italienische Hände.

Die Südtiroler standen vor einer schwierigen Wahl: Entweder blieben sie in der Heimat, auf die Gefahr hin, ihre nationale Identität zu verlieren, oder sie ließen ihre Heimat und alles, was sie sich dort aufgebaut hatten, zurück und nutzten die Möglichkeit, sich irgendwo eine neue Existenz aufzubauen und nach ihren Traditionen zu leben.

Als am 29. Juli 1939 in Südtirol die Pläne zur Umsiedlung bekannt wurden, ging eine Welle der Empörung durch das Land. Die einhellige Meinung war, auf keinen Fall die Heimat zu verlassen. Die illegalen Gruppierungen, sowohl der kirchennahe „Deutsche Verband“ (DV) als auch der „Völkische Kampfring Südtirol“ (VKS) vertraten den gleichen ablehnenden Standpunkt. Erst als der VKS ein Gespräch mit Heinrich Himmler hatte, kippte bei dieser Organisation die Stimmung. Der VKS vertrat dann die Meinung, eine Aussiedlung der Südtiroler (die Option) sei die bessere Lösung. Ein Propagandakrieg unbekannten Ausmaßes wurde entfacht. Er ging von Flugblättern über Schmähschriften bis hin zu tätlichen Angriffen. Der Streit zwischen „Dableibern“ und „Optanten“ entzweite nicht nur die Südtiroler Gesellschaft, sondern auch Familien.

Kanonikus Gamper vertrat die Ansicht, daß möglichst viele „Dableiber“ es den Italienern erschweren würde, sie zu entrechten oder sie gar nach Sizilien umzusiedeln. Sein Werben für den Verbleib half aber nichts. Letztlich entschieden sich zirka 86 Prozent der Südtiroler Bevölkerung für eine Umsiedlung ins Deutsche Reich. Daß von den 213.000 Optanten zwischen 1939 und 1943 nur 75.000 tatsächlich Südtirol den Rücken kehrten, hatte verschiedene Ursachen: Einerseits der beginnende Zweiten Weltkrieg. Da nahm Italien keine Rücksicht, wer von den Südtirolern ein Dableiber oder ein Optant war; als Soldat wurde jeder gebraucht. Andererseits wurde es immer unklarer, wo sich die Optanten ansiedeln sollten. Als geschlossenes Siedlungsgebiet war zuerst die Rede von Galizien, dann von Polen, später von der Untersteiermark. Sogar von Ansiedlungen in Burgund und auf der Krim phantasierten Funktionäre der 1940 gegründeten „Arbeitsgemeinschaft der Optanten für Deutschland“.

Lange Zeit der Aussöhnung zwischen den Südtirolern

Über das eindeutige Votum der Südtiroler für Deutschland waren Hitler und Mussolini sehr überrascht. Mit der Zeit schwante jedoch den italienischen Faschisten, daß eines Tages in Südtirol ganze Landstriche menschenleer sein könnten. Deshalb reduzierten sie den Aussiedlerstrom. 1943 wurde Mussolini gestürzt und die deutsche Wehrmacht rückte in Italien ein. Damit kam die Aussiedlung der Südtiroler endgültig zum Erliegen.

Den Einmarsch deutscher Truppen in Südtirol empfanden viele Bewohner als eine Befreiung vom italienischen Joch. Der Anschluß an das deutsche Reichsgebiet schien nur noch eine Formsache zu sein. Jedoch nahm Hitler wieder Rücksicht auf Mussolini. Südtirol blieb weiterhin ein Bestandteil Italiens, genauer gesagt, ein Teil der „Republik von Salò“. Dieser Satellitenstaat Hitlers existierte bis zum 3. Mai 1945.

Das deutsch-italienische Umsiedlungsabkommen führte 1939 zur Gründung des Andreas-Hofer-Bundes (Südtirol). Diese Widerstandsgruppe unterstützte propagandistisch die Dableiber. Ihre Vertreter glaubten, durch den Widerstand gegen die Faschisten und Nationalsozialisten den Anschluß Südtirols an Österreich zu erreichen. Die bekanntesten Mitglieder waren Michael Gamper, Friedl Volgger, Josef Mayr-Nusser und Erich Amonn. Sie waren später die Hauptakteure bei der Gründung der Südtiroler Volkspartei (SVP) am 8. Mai 1945.

Die Option hatte viele Familien zerstört und die Spaltung der Südtiroler Gesellschaft wirkte noch viele Jahrzehnte danach. Aus diesem Grunde traten bei der SVP in der ersten Zeit nur Vertreter der Dableiber öffentlich auf. Silvius Magnago, ein Vertreter der Optanten, betrat erst später die öffentliche Bühne der Politik.

Der Pariser Vertrag, auch Gruber-De-Gasperi-Abkommen genannt, enthielt eine Passage betreffs der Optanten. Unter Punkt 3a hieß es, daß „in einem Geiste der Billigkeit und Weitherzigkeit die Frage der Staatsbürgerschaftsoptionen, die sich aus dem Hitler-Mussolini-Abkommen von 1939 ergeben, zu revidieren“ sei. Der Vertrag räumte allen Optanten und deren Kindern das Recht auf Rückoption ein. Für diese Kinder mußte ein Geburtsschein vorgelegt werden, damit sie das Recht auf die italienische Staatsbürgerschaft hatten.

Allerdings ließen sich die Italiener viel Zeit und hintertrieben den Pariser Vertrag in vielfacher Weise. Im Optanten-Dekret vom 2. Februar 1948 wurde für die Optanten eine komplizierte Kategorieneinteilung vorgenommen. Dadurch hatte nicht jeder das Recht auf Rückoption. Hierzu gibt es unterschiedliche Angaben. Einige historische Darstellungen gehen von zirka 4.000 Personen aus, denen das Recht auf Rückkehr verweigert worden sei. Der verstorbene Spiegel-Journalist Wolf Donner hatte sich des Themas angenommen und resümierte: „Alle Maßnahmen bewirkten, daß der Bestand an Deutschtirolern heute um ein Viertel vermindert ist.“

Durch die Option, aber auch wegen der bis in die sechziger Jahre fortgesetzten Repressionspolitik Roms sind viele Südtiroler in Österreich, Deutschland und in der Schweiz seßhaft geworden. In Südtirol war die Option jahrzehntelang ein Tabuthema. Zu groß war der Graben zwischen den ehemaligen Dableibern und den Optanten. Kanonikus Michael Gamper (1885–1956) leistete dabei eine unschätzbare Arbeit bei der Aussöhnung beider Gruppen. Er übernahm nach dem Zweiten Weltkrieg die Leitung der Tageszeitung Dolomiten. Jede Interessensgruppe, jede Partei hatte dort die Möglichkeit, ihre Sicht der Dinge darzulegen. Das wirkte sich gesellschaftlich positiv aus. Der Aussöhnungsprozeß dauerte dennoch viele Jahrzehnte.

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