© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/14 / 05. Dezember 2014

Unheimliche Spur der Plastiktüten
Die wirtschaftliche Expansion in die Meere bedroht das Erbe der Menschheit
Christoph Keller

Jeder hat das Zeug zum Weltretter. Und zur diesbezüglichen Selbstoptimierung bedarf es wenig. Es reicht, seinen Einkauf nie wieder in einer Plastiktüte heimzutragen. Ein kleiner Schritt für einen Aldi-Kunden, aber ein großer für die Menschheit.

Denn allein in Berlin sollen nach den Informationen des Kieler Ozeanographen Mojib Latif stündlich 30.000 Plastiktüten über die Ladentische gehen. In der gesamten Konsumrepublik waren es seit 2009 pro Jahr konstant fünf Milliarden.

Tendenz ab 2013 steigend (Universitas,10/2014). Da die meisten davon aus fossilem Rohöl bestehen, verschlinge deren Produktion hierzulande alljährlich 200.000 Tonnen dieser zur Neigung gehenden Ressource. Der globale Jahresverbrauch belaufe sich auf eine Billion Plastiktüten, für die unfaßbare 200 Millionen Tonnen Rohöl aufzuwenden seien. Das entspricht einem Viertel der deutschen Kohlendioxidemissionen des vergangenen Jahres.

Eine Million Seevögel stirbt wegen Plastikmüll

Aber es ist nicht dieser evidente Zusammenhang zwischen Plastiktüte und Klimawandel, der den ökologisch engagierten Latif am meisten umtreibt. Seine Hauptsorge gilt dem Plastik in den Weltmeeren. Groben UN-Schätzungen zufolge bergen die Ozeane bis zu 150 Millionen Tonnen Plastikabfall, vier Fünftel davon über Flüsse eingetragen, der Rest stammt von Schiffen. Was an der Meeresoberfläche treibt und gelegentlich in endzeitlich grundierten Umweltreportagen das öffentliche Bewußtsein quält, ist für Latif buchstäblich nur die Spitze des Eisbergs. Denn lediglich 30 Prozent dieses Mülls ist im Wasser oder an den Küsten zu sehen, das Gros landet auf dem Meeresgrund.

Die größte Gefahr geht dabei vom Mikroplastik aus, winzigen Teilchen unter fünf Millimetern, die am Ende des Zerfallsprozesses übrigbleiben. Kleinkrebse, Fischlarven und viele andere Organismen nehmen diese Kunststoffteilchen als vermeintliches Futter auf. Mikroskopisch winzige Plastikteile fanden sich etwa im Gewebe von Miesmuscheln.

Da sie zu den Arten zählen, die die Basis mariner Nahrungsketten bilden, beginne hier die „schleichende Vergiftung“ der Weltmeere. Nach UN-Angaben verenden pro Jahr eine Million Seevögel und 100.000 Meeressäuger sowie Schildkröten durch Überreste von Plastikmüll. Anschaulicher als mit solchen Statistiken demonstriert Latif die Dramatik der Lage am Beispiel des 2012 an Andalusiens Küste verendeten Pottwals. Im Magen des zehn Meter langen Riesen hatten sich 18 Kilo Plastik angesammelt, darunter 30 Quadratmeter Abdeckfolie, Gartenschläuche und selbstverständlich – Plastiktüten.

Latif sieht angesichts dieser katastrophalen Prozesse immerhin einen Silberstreif am Horizont, da er glaubt, die schwerfällige EU-Kommission werde sich vielleicht bis 2020 gegen die mächtige Brüsseler Plastiklobby durchsetzen und zumindest die Herstellung besonders dünner Tragetaschen verbieten.

Hingegen spendet Antje Boetius Lesern ihres Beitrags zu dem der Zukunft der Weltmeere gewidmeten Universitas-Heft keinen vergleichbaren Trost. Die am Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung tätige Professorin für Geomikrobiologie gilt als die bekannteste deutsche Tiefseeforscherin, die mit ihrem populärwissenschaftlichen Buch über „Das dunkle Paradies“ (2011) auch ein größeres Publikum für die Welt unterhalb von 200 Metern Wassertiefe interessiert hat.

Für Boetius ist die Tiefsee, die 96 Prozent des belebten Erdraumes ausmacht, seit langem nicht mehr die mythisch ferne, dem Zugriff des Menschen entzogene Zone. Vermittelten ihre Lehrer der Studentin Boetius um 1990 noch, in der Tiefsee verlaufe alles unglaublich langsam, und menschliche Eingriffe an der Meeresoberfläche hinterließen kaum Spuren, so reichten ihr 20 Jahre wissenschaftliche Praxis, um radikal umzudenken. Traf sie doch bei ihren Expeditionen zwischen Polarmeer und Pazifik den Tiefseeboden gepflastert mit Zivilisationsmüll, natürlich mit reichlich Plastik durchsetzt, dort wo die globalen Schiffsautobahnen verlaufen.

Umweltverschmutzung durch Deep Water Horizon

Da technisch inzwischen möglich, werden Fischschwärme in tausend Metern Tiefe gefangen. Die Schleppnetze zerstören dabei Kaltwasser-Korallenriffe, die erst in 1.000 Jahren wieder auf einen Meter nachgewachsen sein werden. Nachhaltig könne man diese Fischerei auch sonst nicht nennen, denn Blauhecht, Rot- und Granatbarsch, Schwarzer Heilbutt und Degenfisch wachsen wegen des kargen Nahrungsangebots in ihren Habitaten extrem langsam, bringen es auf 100 Jahre. Die spät zur Geschlechtsreife gelangenden Tiere, einmal vor dem ersten Laichen abgefischt, hinterlassen daher keinen Nachwuchs.

Zu Schiffsverkehr und Fischerei gesellt sich als dritte und im 21. Jahrhundert wohl stärkste Bedrohung der Tiefsee: der Zugriff auf Öl, Gas, Gold und Seltene Erden. Die Erkundungs- und Ausbeutungsaktivitäten verlagern sich immer weiter in die Tiefsee. Im Golf von Mexiko sind Bohrungen nach Erdgas und Erdöl auf 2.000 Meter Tiefe vorgedrungen.

Im Atlantik, vor Brasilien, finden derzeit „die tiefsten Bohrungen überhaupt“ statt. Welche Konsequenzen ein Fehlschlag bei solchen Unternehmungen haben kann, zeigte im April 2010 „der größte Erdölunfall aller Zeiten“, als die Förderplattform Deep Water Horizon im Golf von Mexiko havarierte.

Fünfzig Prozent des ausgelaufenen Öls verlieben auf 500 Quadratkilometer verschmutztem Tiefseeboden. Doch das wahre Ausmaß des Schadens sei nicht abzuschätzen, weil die Forschung die einzigartige Artenvielfalt dieser Regionen kaum kenne. Darum vermöge auch niemand zu sagen, was selbst ein störungsfreier Abbau etwa von Gashydraten, den die EU plane, oder der kobalt- und kupferhaltigen Mangan-Knollen des Nordpazifiks für die Tiefsee bedeute. Kann es sein, daß der kurzfristige Nutzen der Ressourcenausbeutung bereits am Ende des Jahrhunderts bereut wird? Wenn festeht, daß mit der Zerstörung der Artenfülle dieser dunklen Ökosysteme ein Menschheitserbe unwiederbringlich verloren ist?

Um diese fatale Folge ungezügelter Ausbeutung zu vermeiden, helfe allein, so glauben die Umweltrechtlerin Sabine Schlacke (Universität Münster) und der Politologe Claus Leggewie (Essen), beide im Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen der Bundesregierung, ein strenges Regime der Vereinten Nationen über die Meere als „Gemeinsames Erbe der Menschheit“. „Jute statt Plastik“ ist diesen Weltrettern und Architekten der „Meeres-Governance“ definitiv zuwenig.

Foto: Müll am Strand: An der französischen Atlantikküste sammelt sich allerhand Plastik an, das sonst in den Mägen von Meeresbewohnern landet

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