© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/14 / 12. Dezember 2014

Kalter Krieg in Sicht?
Rußland und der Westen: Ein schlechtes Verhältnis ist nicht im Interesse beider Seiten
Michael Paulwitz

Das Eis wird dicker zwischen Rußland, der EU und den USA. Die Frequenz und kontroverse Auslegung der beiderseitigen Grundsatzreden und Appelle sind ein sicherer Indikator für den Ernst der Lage in der neuen Eiszeit, die über die Ukraine-Krise heraufzuziehen droht. Ein neuer Kalter Krieg scheint in Sicht, selbst mit dem heißen wird gezündelt. Die politischen und medialen Säbelraßler sitzen dabei keineswegs nur in Moskau.

Hüben wie drüben regieren die Stereotype. Aus westlich-amerikanischer Sicht trägt Rußland die Alleinschuld an der Eskalation des Ukraine-Konflikts zum unerklärten Krieg, aus russischer Sicht „der Westen“, genauer: die USA, wie Präsident Putin in seiner Rede „zur Lage der Nation“ ein weiteres Mal bekräftigte. Hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs sollte sich indes herumgesprochen haben, daß es in Kriegen selten Alleinschuldige gibt, daß konkurrierende Mächte aber um so leichter aus einem lokalen Konflikt in eine umfassende Auseinandersetzung schlittern, je fester ihre politischen und militärischen Eliten davon überzeugt sind, nur ihr gutes Recht zu wahren und „alternativlos“ das Richtige zu tun.

Putins Hinweis auf die Verteidigungsfähigkeit der russischen Armee, die es unmöglich mache, Rußland militärisch zu besiegen, sollte vor diesem Hintergrund gelesen werden. Und ebenso die bereits Mitte November bekanntgewordenen Pläne der Nato, als Konsequenz aus dem Ukraine-Konflikt eine „schnelle Eingreiftruppe“ zum Schutz der ost- und mitteleuropäischen Nato-Partner aufzustellen, in der der Bundeswehr vorübergehend sogar eine Führungsrolle zukommen könnte – als „klares Zeichen an Moskau“. Wer den Säbel nicht ziehen kann oder will, sollte auch nicht mit ihm rasseln.

Die Rede des russischen Präsidenten wurde in den hiesigen Medien fast durchgängig als „provokativ“ und „bedrohlich“ wahrgenommen. Die Linie der Kommentierung folgte weithin der amerikanischen Perspektive. Präsident Obama hatte einen Tag vor Putins Ansprache dessen Politik als „nationalistisch“ und „rückwärtsgewandt“ attackiert. Rückwärtsgewandt könnte man freilich auch die amerikanischen Bestrebungen nennen, die Ukraine in den eigenen Einflußbereich einzubeziehen.

Rußland, meint Obama, sei von der Eskalation des Ukraine-Konflikts und der harschen Reaktion des Westens auf die Einverleibung der Krim „überrascht“ worden und improvisiere seither mit einer Politik der Stärke. Auch das ließe sich unter geänderten Vorzeichen auf die US-Politik anwenden, die offenbar nur unzureichend einkalkuliert hat, daß das Rußland Putins nicht mehr das passive, von wirtschaftlichem Niedergang zerrüttete Rußland der Neunziger ist, sondern den Anspruch erhebt, in einer multipolaren Welt als gleichberechtigte Macht auf Augenhöhe sowohl mit den USA als auch mit den aufsteigenden asiatischen Mächten zu agieren.

Es sind vor allem die Passagen in Putins Rede, die den russischen Anspruch auf Souveränität und Gleichberechtigung betonen, die von westlichen Kommentatoren meist überlesen wurden, die aber einen Schlüssel zum Aufbrechen der festgefahrenen Fronten aufzeigen. Auch Nichtgesagtes ist aufschlußreich: Zwar überhöht Putin die im Frühjahr angeschlossene Krim mit quasi-religiöser Metaphorik zum „Tempelberg“, der den Russen „heilig“ sei, aber anders als in früheren Reden ist vom expansionistischen „Neurußland“-Konzept nicht mehr die Rede.

Eine Verhandlungsgrundlage könnte demnach so aussehen: Die Abtretung der Krim wird in völkerrechtlicher Form nachträglich legitimiert, die von Separatisten kontrollierten Distrikte im Osten verbleiben, mit einem zu definierenden Sonderstatus, im ukrainischen Staatsverband, die Ukraine selbst bleibt blockfrei.

Ziel deutscher Politik sollte es sein, solche Verhandlungsspielräume zu nutzen. Die Sensibilität dafür scheint derzeit in den Reihen der SPD eher vorhanden als bei der Bundeskanzlerin, die nach dem G20-Gipfel in Sidney mit scharfer Rußland-Kritik zuletzt stärker auf die Linie der Amerikaner eingeschwenkt war. Als Basis für diplomatische Lösungsversuche könnte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wieder größere Bedeutung gewinnen, in der Deutschland einigen Einfluß (und 2016 den Vorsitz) hat.

Legitime Sicherheitsinteressen haben nämlich nicht nur die baltischen Republiken, Polen und weitere Staaten des östlichen Mitteleuropa als gebrannte Kinder des russischen und sowjetischen Imperialismus – ein Umstand, den Rußland selbst und viele Russophile im westlichen Europa gerne übersehen –, sondern auch Rußland selbst, aus dessen Sicht die angestrebte Ausdehnung des amerikanischen und Nato-Einflußbereichs auf die Ukraine und den Kaukasus der Versuch ist, Rußland zur bloßen Regionalmacht zu deklassieren.

Wirtschaftliche Zwänge könnten dabei auf beiden Seiten der realpolitischen Vernunft auf die Sprünge helfen. Nicht nur Rußland ist in eine ökonomisch prekäre Situation geraten, durch den Verfall des Ölpreises mehr noch als durch die europäisch-amerikanischen Wirtschaftssanktionen; daß Putin mit der Erinnerung an den bald siebzig Jahre zurückliegenden Sieg über Hitler die Dämonen der Vergangenheit beschwört, bestätigt nur den Ernst der Lage und konterkariert seine Durchhalteparolen. Auch in deutschen Wirtschaftskreisen steigt der Unmut über den fortschreitenden Ruin des Rußland-Handels. Ein langanhaltender Wirtschaftskrieg und ein schwaches Rußland mag amerikanischen Geostrategen zupaß kommen, liegt aber weder im deutschen noch im europäischen Interesse. Die deutsche Politik wäre gut beraten, ihre Schritte wieder an dieser Grundkonstante auszurichten.

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