© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/14 / 12. Dezember 2014

Der Flaneur
Kalter Wind um stumme Stele
Cassian Heidt

Es ist nur ein einfacher Gang, Heimweg trifft es nicht mehr. Und Waldgang wäre schwülstig übertrieben. Ihn führt es lediglich durch die Straßen der Stadt. Manchmal finden ihn in der Menschenmasse die Gedanken nicht. Doch die Strecken, die sich ein Mensch nicht gerade zieht, sagen mehr über ihn aus, als er ahnt. Es ist immer derselbe kurze Umweg, vorbei an dem alten Denkmal unter der Silberpappel. Nur wenige Meter hinter der tosenden Straße, aber hier ist es still.

Er weiß selbst nicht, was ihn immer wieder an der verwitterten Stele vorbeitreibt. Er grüßt sie, sie rührt sich nicht. Vielleicht findet er es einfach unanständig, nicht an diesem Ort vorbeizugehen, das mag schon sein.

„Woll’n predigen und sprechen.“ Ja, zu wem? Still! Das würde nur die Fahnen wecken.

An einem kalten Wintertag ist es anders. Diesmal sieht er schon von weitem die blutigen Lettern an der stummen Stele prangen. Rot und zornig, voller Haß. Mit dem schneidenden Wind kriecht ihm der Gedanke unter die Kleidung: Wahrlich, in diesem Land dürfen sogar die Toten nicht sterben. Noch immer müssen sie die Gespenster der Lebenden sein.

Gedämpft durch den Schnee dringen aus dem Haus die ausgedienten Lieder. „Wollt nimmer von uns weichen.“ Die Schritte werden schneller. Es ist ein altes, ein ehrwürdiges Haus. Seine Balken wurden ersetzt, aber es ist morsch geworden. Spät abends schmeckt das Bier manchmal ein wenig schal. Die Fahnen stehen treu in den Ecken, vom Zigarrenrauch schläfrig und unbeachtet. Sie sollen ruhen, unsre Zeit braucht sie nicht. Das Lied schwillt an. „Woll’n predigen und sprechen.“ Ja, zu wem? Still! Das würde nur die Fahnen wecken. Es gibt doch keinen Cornet mehr, der sie tragen kann. Sie sollen sich keine Hoffnung machen.

Predigen konnte die alte Lehrerin. Viel von Sühne, aber hauptsächlich von Schuld. Schon morgens begann er davon zu trinken und irgendwann auch daran zu glauben. Ihr Keifen hallte durch die Räume und wirbelte den Staub auf. Er schmeckte bitter und hart. Frauen sitzen, die tonnenweise Folie in den Haaren haben“

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