© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/14 - 01/15 / 19. Dezember 2014

Nur die Ladendiener der Revolution
Karl Schlögel präsentiert die Debatte russischer Exiljuden über die jüdische Rolle im Bolschewismus
Ernst Nolte

Die Formel vom „jüdischen Bolschewismus“ war bekanntlich einer der wichtigsten Termini in der Propaganda Adolf Hitlers und des deutschen Nationalsozialismus. Wer den Versuch macht, zu einem „objektiven“ Urteil zu gelangen, kann vermutlich keinen besseren Weg finden, als die Publikationen von nichtbolschewistischen Juden aus den frühen zwanziger Jahren zur Kenntnis zu nehmen, die noch unmittelbar den Dingen selbst konfrontiert waren und deren Blick noch nicht durch den Blick auf Adolf Hitler und dessen Propaganda beeinflußt war.

Daß Schriften dieser Art existierten und in deutscher Sprache vorlagen, ist weithin bekannt, und der Name ihres Protagonisten, Josif M. Bikermann, wurde hin und wieder angeführt; aber sie waren nur sehr schwer zugänglich. Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel hat seinen großen Verdiensten um die Kenntnis der russischen Verhältnisse in der Zeit der Russischen oder Bolschewistischen Revolution ein weiteres Verdienst hinzugefügt, indem er zusammen mit seinem Mitarbeiter Karl-Konrad Tschäpe einige dieser Schriften neu vorgelegt hat.

Es handelt sich um das 1925 erstmals in deutscher Übersetzung publizierte und vom „Vaterländischen Verband russischer Juden im Auslande“ herausgegebene „Sammelwerk“ über „Die Umwälzung in Rußland und das Schicksal der russischen Juden“ (Berlin, 1925) und die Abhandlung „Die Russische Revolution und die Judenheit (Bolschewismus und Judentum)“, erschienen 1923 in Berlin und verfaßt von Daniil S. Pasmanik, der dann auch zu den Beiträgern des Sammelwerks gehörte.

Den Anfang des Buches bildet eine lange und instruktive „Einleitung“ von Karl Schlögel, und der Schlußteil besteht aus siebzehn Biographien von Beteiligten, darunter Bikermann (unter Anführung der Titel von zahlreichen zwischen 1922 und 1929 in Berlin auf russisch gehaltenen Vorträgen), Pasmanik und der berühmte Historiker Simon M. Dubnow. So ist eine imposante Publikation von nahezu 800 Seiten entstanden, abschließend eine Auswahlbibliographie mit unter anderem vielen russischen, aber in lateinischer Schrift verzeichneten russischen Titeln, aufweist, letztere aber ohne Register.

Der Beitrag und das Buch von Pasmanik sind am ehesten so etwas wie eine „Apologie“: „Die Russische Revolution ist keine ‘Judenherrschaft’, sondern ein durch und durch nationales Produkt des russischen Lebens, der russischen Geschichte und des russischen Volksgeistes.“ Es sei allerdings zuzugeben, daß viele Juden, die Pasmanik für den „Abschaum“ des jüdischen Volkes erklärt, mit ihren Taten eine Stimmung des verschärften Antisemitismus hervorgerufen hätten. Aber im ganzen sei trotz der zahllosen jüdischen Namen, die in den Erzählungen über die Russische Revolution auftauchten, festzustellen, „daß die Juden nicht die Herren, sondern die Ladendiener und Handlungsreisenden der Russischen Revolution“ waren.

Gleichwohl sieht Pasmanik in der überall vordringenden Gleichsetzung von Juden und Bolschewisten eine große Gefahr für die ganze Welt: „Der Sieg des Bolschewismus brächte unserem Volk den sicheren Tod, wie es in gewissem Maße Marx in seinem berüchtigten Essay ‘Zur Judenfrage’ vorhergesehen hat.“

In weit stärkerem Maße unterstreicht Bikermann (im Buch mit „k“ oder mit „ck“ geschrieben) „die maßlose und allzu eifrige Teilnahme der Juden an ‘der Folterung des halbtoten Rußlands durch de Bolschewisten’. Niemals früher hat der Russe den Juden als Machthaber gesehen. (...) Heute aber ist der Jude an allen Ecken und auf allen Stufen der Macht. (...) Der Russe sieht jetzt den Juden als Richter und Henker.“ So entstand ein Sonderverhältnis zwischen Russen und Juden, „in dem ich unsere Hauptsünde erblicke“.

Negierung des Terminus „jüdischer Bolschewismus“

Daher wird die Sowjetmacht mit der Macht der Juden identifiziert, „und der glühende Haß gegen die Bolschewisten wird zu einem ebenso brennenden Haß gegen die Juden. (...) Übrigens nicht nur in Rußland. Alle, buchstäblich alle Länder und Völker werden von den Wellen des Judenhasses überschwemmt, die der Sturm, der den russischen Staat umgestürzt hat, immer weiter vorantreibt. Noch nie hingen über dem Haupt des jüdischen Volkes so viele dräuende Sturmwolken wie heute.“

Im Beitrag von G. A. Landau nimmt die jüdische Selbstkritik einen noch akzentuierteren Raum ein: Bei den Juden fehle die Selbstkritik, „alle anderen sind schuldig, sie selbst aber nicht“. Bei D. O. Linski heißt es: „Das nationale Bewußtsein der Juden ist durch den Widerspruch geprägt, wir seien ‘auserwähltes Volk’, also besser als unsere Umgebung, was wir aber selbst oft mit dem entwürdigenden Gefühl verbinden, daß wir ein ‘verworfenes Volk’ und schlimmer als unsere Umgebung sind.“ Mithin sind die Juden keine homogene und positive Einheit, und darin mag einer der Gründe für ihr revolutionäres Engagement bestehen.

So erweist es sich als schwierig, die unaufhörlichen Forderungen des „Vaterländischen Verbandes russischer Juden im Auslande“ in die Praxis umzusetzen: „Kampf mit allen Mitteln gegen die bolschewistische Herrschaft; gegen die Bolschewisten – im Verein mit allen, die zu kämpfen bereit und fähig sind“ (im Verein auch mit den „Weißen“, denen sich einige der Beiträger ausdrücklich als zugehörig sehen).

Ein generelles Urteil über die Frage, ob zwischen den Juden und dem Bolschewismus eine innere Affinität bestehe, die den Terminus „jüdischer Bolschewismus“ möglicherweise rechtfertigen würde, findet in der Hauptsache eine negative Antwort: Keineswegs alle Juden sind Mittäter und Sympathisanten des Bolschewismus, und das wird schon durch die eigene Existenz der kritischen Beiträger unter Beweis gestellt. Aber der Anschluß so vieler Juden an die Bolschewiki bringt genuine Gefahren für das gesamte Judentum mit sich, und in Andeutungen ist sogar von einer „Vernichtung der Juden“ die Rede, die ein Sieg des Bolschewismus nach sich ziehen würde.

Als selbstverständlich gilt, daß der Haß gegen die Bolschewiki grundlegend und der Haß gegen die Juden davon abgeleitet ist. Hier und da wird sogar jene Identifizierung von Judentum und Bolschewismus für gerechtfertigt erklärt, wenn auch nur infolge bestimmter Umstände oder inmitten dieser Umstände. Wer den Terminus für eine bloße Erfindung hält, handelt schlicht aus Kenntnislosigkeit. Diese führt zu jenen Vereinfachungen, die in einem Zeitalter der ideologischen und realen Kämpfe zwischen den in sich widersprüchlichen Phänomenen der „Ideologiestaaten“ der Zwischenkriegszeit nur allzu naheliegend waren, die sich aber unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht ausreichend begründen lassen.

 

Prof. Dr. Ernst Nolte, Jahrgang 1923, lehrte bis zu seiner Emeritierung 1991 an der Freien Universität Berlin Neuere Geschichte.

Karl Schlögel, Karl-Konrad Tschäpe (Hrsg.): Die Russische Revolution und das Schicksal der russischen Juden. Eine Debatte in Berlin 1922/23. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2014, gebunden, 762 Seiten, 49,90 Euro

Foto: Präsidium des Allrussischen Zentralexekutivkomitees in Petrograd 1918 mit Urizki, Trotzki, Swerdlow, Sinowjew und Laschewitsch (sitzend, von links): „Der glühende Haß gegen die Bolschewisten wird zu einem ebenso brennenden Haß gegen die Juden“

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