© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/14 - 01/15 / 19. Dezember 2014

Der Flaneur
15 Minuten Weihnachten
Paul Leonhard

Die Innenstadt ist ein einziger Weihnachtsmarkt. Der weltberühmte Striezelmarkt geht einfach in umgrenzende Märkte über. Die Menschen schieben einander langsam an den Ständen entlang. Das Warenangebot ist reichlich, abwechslungsvoll, weihnachtlich, und die Händler lächeln den Kunden entgegen. Vielleicht liegt das daran, daß diesmal das nervtötende Abspielen weihnachtlicher Melodien fehlt.

Ein kräftiger Mann bahnt sich den Weg durch die Massen. „Hehehe“, sagt er und „Hohoho“. Alle machen bereitwillig Platz. Lächeln sogar. Denn er trägt einen langen weißen Bart, einen weiten roten Mantel und eine Kapuze. Vor allem aber verteilt er mit einem freundlichen Lächeln aus einem großen braunen Beutel kleine Geschenke.

Teelichter flackern auf. Und Spaziergänger lesen, obwohl völlig fremd, einander vor.

Die stecken in Papiertüten und sind, da quadratisch, nicht einmal A5 groß. „15 Minuten Weihnachten“ steht in schwarzer Schrift, umrahmt von gemaltem Herz, Stern und Kerze darauf. Und da die Initiatoren der Aktion natürlich wissen, daß sie damit bei den Beschenkten fragende Gesichter verursachen, ist eine Gebrauchsanweisung auf das Papier gedruckt: „Kerze anzünden, Tee kochen, Geschichte lesen, Tee und Süßes genießen.“

Und tatsächlich: In der Tüte befinden sich ein eingeschweißter Keks (exklusiv für die Gastronomie), ein Teelicht und ein Teebeutel-Hüttentraum (mit Rumtrauben-Orangen-Aroma) sowie ein eng zusammengerolltes weißes Papier. Es enthält die gute Nachricht aus dem Lukas-Evangelium „Jesus, der Retter, wird geboren“. Fehlt einzig das Streichholz, um die Kerze zu entzünden?

Nein, man soll die 15-Minuten-Weihnachten ja nicht allein feiern. Und schon flackern an einzelnen Stehtischen neben den Ständen die ersten Teelichter auf. Und tatsächlich, die Spaziergänger lesen, obwohl völlig fremd, einander vor: „Sie liefen hin, kamen zum Stall und fanden Maria und Josef und bei ihnen das Kind in der Futterkrippe.“

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