© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/15 / 02. Januar 2015

Im Spiel der Mächte
Zwei Jubiläen, die zusammengehören: 200 Jahre Otto von Bismarck und 25 Jahre deutsche Einheit
Karlheinz Weissmann

Es gibt Zahlenkombinationen im Ablauf der Jahre, die historische Ereignisse anziehen, so daß bei deren Jubiläen eine irritierende Häufung auftritt. Das gilt in jedem Fall für das neue, das Jahr 2015.

In Japan wird man der Reichseinigung und des Beginns der Tokugawa-Ära gedenken (1615), und Russen und Ukrainer dürften die Gelegenheit nutzen, um über die Frage zu streiten, in wessen Tradition Wladimir der Große, Fürst von Kiew, gehört, der vor tausend Jahren (1015) starb. Die Vereinigten Staaten von Amerika erinnern an das Ende des Bürger- (1865) und des Vietnamkriegs (1975) sowie die Eröffnung der ersten McDonalds-Filiale (1940), die Briten an ihren „Großen Freiheitsbrief“, die Magna Carta (1215), an Churchills 50. Todestag (1965) und mit den Franzosen gemeinsam an die Schlachten von Azincourt (1415) und Waterloo (1815).

Für unsere Nachbarn im Westen ist außerdem das Ende der Herrschaft Ludwigs XIV. (1715) von Belang und für die Tschechen der Flammentod ihres Reformators Jan Hus (1415), die Schweizer gedenken ihres Sieges am Morgarten (1315) und ihrer Niederlage bei Marignano (1515), zweier wichtiger Schritte auf dem Weg der Staatsbildung, und die Italiener ihres verspäteten Eintritts in den Ersten Weltkrieg (1915).

Aber die Kette der Ereignisse, mit der die Deutschen sich zu befassen haben, dürfte ihresgleichen suchen: Sie reicht, und auch das ist nur eine Auswahl, von der Krönung Friedrichs II. in Aachen (1215) über das Konzil von Konstanz (1415), das Ende der Befreiungskriege, die Gründung des Deutschen Bundes wie der Urburschenschaft (alle 1815), den Vertrag von Locarno (1925), das Kriegsende (1945) und den Abschluß des Generalvertrages (1955) bis zur Wiedervereinigung (1990), nicht zu vergessen der 75. Geburtstag der Tänzerin und Choreographin Pina Bausch, der 100. Geburtstag des Bundestrainers Helmut Schön, der 150. des ersten Regierungschefs der Weimarer Republik, Philipp Scheidemann, und der 200. Otto von Bismarcks.

Die Aneinanderreihung bedeutet selbstverständlich kein Urteil über die historische Bedeutsamkeit. So groß die Faszination durch den Staufer, den Heldenkampf gegen Napoleon und den Völkerfrühling auch sein mag, so niederdrückend die Erinnerung an den Zusammenbruch und seine Folgen, die Wiederherstellung der Einheit hat für den Gang unserer Geschichte das größere Gewicht. Denn sie bedeutete die Rückgewinnung des notwendigen Maßes an staatlicher, das heißt: nationalstaatlicher, Normalität und Handlungsfähigkeit nach einer unvorstellbaren militärischen und politischen Katastrophe. Und Bismarck ragt selbstverständlich über jeden anderen hinaus, der sonst genannt wurde.

Weder Scheidemann noch Schön, noch Bausch ist etwas wie historische Größe zuzusprechen: ihm schon. Denn Bismarck gelang unter denkbar widrigen Umständen, Deutschland in Form zu bringen, und auch wenn diese Form in Frage gestellt, geschwächt und schwer beschädigt wurde, ist sie doch die einzige, die unserem Volk seit der Reichseinigung von 1871 zur Verfügung steht. Insofern hat er etwas geleistet, das sehr weit über das hinausragt, was man von Staatsmännern sonst sagen kann. Er hat tatsächlich „Geschichte gemacht“.

Diese Einschätzung wird nicht unbestritten bleiben, und das offizielle Gedenken noch heikler als im Fall des Friedrich-Jubiläums 2012. Aber das muß niemanden irremachen. Wir haben es nur mit den üblichen Folgen jener Demontage des Selbstbewußtseins der Deutschen zu tun, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer neu vorangetrieben wurde, die alliierte Propaganda gegen den bismarckism oder die Argumente der linken wie der liberalen (fallweise auch der katholischen und der konservativen) Bismarck-Gegner aufnahm und um eine moralisierende Betrachtung ergänzte, die in Bismarck bestenfalls einen „Dämon“ (Johannes Willms) sehen konnte.

Das alles festzustellen heißt noch nicht, fruchtbare Debatten über die Bedeutung Bismarcks zu erwarten. Die großen Verlage haben zwar ihre Neuerscheinungen in Stellung gebracht, sicher wird es Fernsehproduktionen und Vorträge zum Thema geben und Ausstellungen, und die Post hat das Erscheinen einer Sondermarke angekündigt, aber die Heftigkeit der alten Leidenschaften ist doch erloschen. Das hat nicht nur mit Geschichtsvergessenheit zu tun, sondern auch mit der Einsicht, daß der „Bismarckdeutsche“ im klassischen Sinn ausgestorben ist, jener Typus, der darauf beharrte, daß Politik „die Kunst des Möglichen“ sei, daß es in ihrem Rahmen um Machtfragen gehe und „wer Menschheit sagt, (…) betrügen“ wolle.

Andererseits bietet eine tabula rasa neue Möglichkeiten. Etwa um eine angemessene Vorstellung von Außenpolitik zu gewinnen – „Ich habe (…) auf die Frage, ob ich russisch oder westmächtlich sei, stets geantwortet, ich bin preußisch“ – oder um wieder zu begreifen, welche harten Lehren die historische Erfahrung für die Deutschen bereithält, aber auch mit welchem Selbstbewußtsein sie eigentlich auftreten sollten.

Denn Bismarck war kein zynischer Taktiker, kein beschränkter Junker oder bösartiger Tyrann, und auch kein Konservativer des 19. Jahrhunderts im naiven Sinn, sondern ein großer Könner im Spiel der Mächte und ein Mann, der tief in der Geschichte seines Volkes wurzelte. Des Volkes, dessen Neigung zu romantischer Schwärmerei er mit Sorge sah, aber die Gefühlswerte achtete, die die Bindung an die Nation bereithält und die auch heute der Ermutigung dienen können: „Es muß uns Söhnen Teuts erst einmal schlecht gehn, ehe wir Courage haben. Solange wir noch etwas zu verlieren haben, fürchten wir uns; sind wir ausgezogen und durchgeprügelt, so ist jeder ein Löwe.“

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