© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/15 / 02. Januar 2015

„Der Staat nimmt mehr, als er zurückgibt“
Unser Sozialstaat sorgt für die Schwachen. Glauben Sie das auch? Irrtum, meint Jürgen Borchert, er plündert sie aus. Längst habe er sich ins Gegenteil verkehrt, analysiert der als „soziales Gewissen Deutschlands“ bekannt gewordene Richter in seinem Buch „Sozialstaatsdämmerung“
Moritz Schwarz

Herr Dr. Borchert, Sie sagen, der Sozialstaat schützt uns nicht vor Armut – er macht uns ärmer. Wie das?

Borchert: Das ist überspitzt, aber richtig. Ausgerechnet der Sozialstaat produziert zunehmend die Probleme und Risiken selbst, vor denen er uns eigentlich schützen soll. Zum Beispiel die doppelte Kinderarmut. Sie ist kein Zufall, sondern Ergebnis einer totalen Fehlverteilung der sozialen Verantwortlichkeiten.

Doppelte Kinderarmut?

Borchert: Die Geburtenzahlen haben sich seit 1965 halbiert, gleichzeitig wurde der Anteil der Kinder im Sozialhilfebezug immer größer. 1965 lebte nur jedes 75. Kind unter sieben im Sozialhilfebezug, heute ist es jedes fünfte insgesamt! Je weniger Kinder wir haben, desto schlechter geht es ihnen – das schafft kein anderes Land der Welt.

Vielleicht ja, weil wir die Sozialausgaben ausgedehnt haben?

Borchert: Nein, die Leistungsniveaus sinken seit Jahrzehnten. Auch Hartz IV liegt deutlich unter dem Niveau der früheren Sozialhilfe. Armut im Kindesalter ist aber die beste Garantie für massive Beeinträchtigungen der Bildungsfähigkeit des Nachwuchses und untergräbt die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.

Und Sie meinen, an der doppelten Kinderarmut ist der Sozialstaat schuld?

Borchert: Die Hauptursache der Katastrophe findet man in der Finanzierung der Sozialversicherung. Sie knüpft nämlich am Lohn an. Löhne sind als Markt-einkommen aber „individualistisch verengt“, das heißt, sie fragen nicht danach, wie viele Personen davon leben müssen. Obwohl Eltern mit ihrer Kindererziehung die Altersvorsorge ihrer Generation auf die Beine stellen und durch die hohen Kinderkosten bei weitem nicht so leistungsfähig wie Kinderlose sind, zahlen sie mit Ausnahme der Pflegeversicherung in allen Systemen denselben Beitragssatz wie Personen ohne Unterhaltspflichten. So werden immer mehr Familien unter das Existenzminimum gedrückt, und Kinder werden zum Armutsrisiko.

Aber erhalten nicht gerade Familien besonders viele Leistungen vom Sozialstaat?

Borchert: Nein, unterm Strich nimmt ihnen Vater Staat viel mehr, als er ihnen zurückgibt. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon 1992 im „Trümmerfrauenurteil“ vorgerechnet.

Also ist der Sozialstaat ein Übel?

Borchert: Nein. Nur sieht die Wirklichkeit des Sozialstaats ganz anders aus, als die Leute sich das vorstellen. Jeder denkt doch, daß das Steuerrecht und die Sozialsysteme für mehr Einkommensgerechtigkeit sorgen. Das Gegenteil ist der Fall.

Was genau läuft falsch?

Borchert: Einen Sozialstaat erkennt man nicht daran, wie er vermeintliche Geschenke, sondern wie er die Lasten der sozialstaatlichen Verantwortlichkeiten verteilt. Die Einkommensteuer ist das einzige System, in dem ansatzweise noch das Prinzip gilt, daß starke Schultern mehr als schwächere tragen sollen. Dafür sorgt der progressive Steuertarif. In den letzten Jahrzehnten wurde der Spitzensteuersatz aber immer weiter abgesenkt und haben sich zahllose Steuervermeidungsmöglichkeiten eingenistet, von denen die Luxemburgverbindung ja nur eine war und ist. Stattdessen wurden die Verbrauchsteuern und Sozialbeiträge stetig erhöht. Deren Belastungswirkung ist aber derjenigen der Einkommensteuer genau entgegengesetzt, weil sie die Einkommen um so härter belasten, je niedriger diese sind. Eine „primitive und brutale Verlagerung der Staatsverantwortung“ auf die kleinen Leute nannte das ein führender Steuerrechtswissenschaftler. Hinter der Fassade des Sozialstaats findet mittlerweile eine gigantische Umverteilung von unten nach oben statt.

Moment, sind die Empfänger nicht trotz allem vor allem die sozial Schwachen?

Borchert: Sie sind schon wieder auf der Leistungsseite. Aber der Staat kann doch nur das verteilen, was er vorher eingenommen hat. Daß Erwerbslose und Rentner per Saldo Empfänger sind, ist klar. Aber wer ist es denn, der für ihre Versorgung geradesteht? Sind es die Millionäre, die Abgeordneten, die Beamten, die Richter, die Selbständigen, die verkammerten Berufe wie Ärzte, Architekten, Rechtsanwälte – also die starken Schultern? Nein, gerade sie sind es nicht. Sie zahlen keine Sozialbeiträge. Es sind vielmehr die Arbeitnehmer, die die Last tragen. Sie tragen die Sozialversicherungsbeiträge ganz allein, denn der „Arbeitgeberbeitrag“ ist ein frommes Märchen aus den Anfängen der Sozialversicherung. Damals, bei der Einführung, ging er zu Lasten der Gewinne der Unternehmer, wenige Jahre später war er aber komplett in die Lohnkalkulation eingeflossen und ist heute zu hundert Prozent vorenthaltener Lohn. Der Hauptgrund, warum wir dieses Possenspiel weitermachen, ist die Kontrolle, die Arbeitgeber über die „Selbstverwaltung“ über die „Solidarkassen“ ausüben können. Aber nicht nur die Tatsache, daß die Arbeitnehmer die Sozialbeiträge aus ihren Löhnen allein tragen, ist das Problem, sondern auch der Umstand, daß die Belastungswirkung der Beiträge selbst zutiefst ungerecht ist.

Beteiligt sich nicht „Vater Staat“ über Bundeszuschüsse an den Aufwendungen der Sozialversicherungen? Dann tragen doch auf diesem Umweg auch die „starken Schultern“ mit!

Borchert: Schön wär’s. In der Realität sorgen die zahlreichen Steuervermeidungsmöglichkeiten erstens für eine unterproportionale Beteiligung der hohen Einkommen an den Staatsaufgaben. Bei der Einkommensteuer macht – zweitens – die Lohnsteuer den mit großem Abstand dicksten Posten aus, der derzeit bei deutlich über neunzig Prozent liegen dürfte. Und drittens stammt der Löwenanteil der Einnahmen des Fiskus aus den Verbrauchsteuern.

Allerdings haben die unteren Einkommen nur einen kleinen Anteil am Wohlstand. Also können sie doch gar nicht so viel ausgeben, um eine so große Rolle zu spielen.

Borchert: Aber der Anteil des Verbrauchs wird zwangsläufig um so höher, je niedriger die Einkommen sind – und damit die Steuerquote. Kleine Einkommen können ja so gut wie keine Ersparnis bilden. Im Gegensatz zur Einkommensteuer haben wir es hier deshalb nicht mit einem progressiven, sondern „regressiven“ Belastungsverlauf zu tun. Verbrauchsteuern werden von der Masse der Konsumenten bezahlt, also auch wieder vorwiegend von den Arbeitnehmern. Im intransparenten Verteilungsspiel tragen Arbeitnehmer mit ihren schwachen Schultern so den größten Teil der Lasten, für den eigentlich die Starken verantwortlich sind. Nicht die sogenannten Eliten, sondern die Arbeitnehmer sind hierzulande die Leistungsträger.

Und weshalb sind die Belastungswirkungen bei den Sozialbeiträgen als solchen nun ungerecht?

Borchert: Arbeitnehmer zahlen alle den gleichen Prozentsatz ihres Einkommens an die Sozialversicherungen, allerdings nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze, die bei rund 70.000 Euro für die Renten- und Arbeitslosenversicherung liegt. Das heißt, die soziale Verantwortung endet ausgerechnet an dem Punkt, wo bei der Einkommensteuer der Spitzensatz anfängt und deutlich macht, daß hier die Leistungsfähigkeit am höchsten ist. Bei der Sozialversicherung haben wir sozusagen die „Schweiz“ mitten in Deutschland! Je höher die Einkommen, desto geringer ihre öffentliche Inanspruchnahme! Die Belastungswirkungen von Sozialbeiträgen und Verbrauchsteuern sind zutiefst ungerecht, weil sie die schwächsten Schultern relativ am stärksten belasten. Tatsache ist, daß die öffentlichen Hände sich zu über siebzig Prozent aus diesen beiden Abgaben finanzieren. Asozialer könnte man den Sozialstaat kaum finanzieren. Er steht kopf. Und das ist auch wirtschaftspolitisch fatal.

Inwiefern?

Borchert: Weil die Kraftreserven einer Volkswirtschaft immer im untersten Einkommensdrittel liegen. Für diese Erkenntnis gab es 1989 den Wirtschaftsnobelpreis. Ein Grund ist, daß jeder Euro, der im unteren Drittel landet, unmittelbar in den heimischen Markt geht, statt sich weltweit die lukrativste Anlageform zu suchen. Wenn wir aber durch eine falsche Umverteilungspolitik das unterste Einkommensdrittel weiter so ausbluten lassen, wie das in den letzten fünfzig Jahren der Fall gewesen ist, dann driften Einkommen und Bedarf immer weiter auseinander und ist die Volkswirtschaft auf Selbstzerstörung programmiert.

Wie kam es überhaupt zu dieser Fehlprogrammierung unseres Sozialstaats?

Borchert: Weil die Politik die durchsetzungsstarken Interessen bedient hat und die Intransparenz zu legislativen Hütchenspielen geradezu einlädt!

Konkret?

Borchert: Stellen Sie sich vor, Sie wären Politiker und brauchen mehr Finanzmittel. Dafür stehen Ihnen die Einkommensteuern, die Verbrauchsteuern, Sozialbeiträge und Kreditaufnahme, also Staatsverschuldung, zur Verfügung. Welchen Weg schlagen Sie ein? Klar, Sie wählen den, auf dem Ihnen der geringste Abgabenwiderstand begegnet. Das sind Staatschulden, Sozialbeiträge, Verbrauchsteuern. Staatsschulden sind letztlich nichts anderes als Steuerverschonungen hoher Einkommen; dafür werden Sie gelobt. Bei Sozialbeiträgen machen Sie sich den finanzpsychologischen Effekt zunutze, daß die meisten Bürger glauben, sie zahlten ja gar nicht an den Staat, sondern auf ihr eigenes Konto. Und bei den Verbrauchsteuern wie der Mehrwertsteuer treten Sie den Bürgern ja nicht offen und direkt mit einem Steuerbefehl gegenüber, gegen den diese sich – notfalls bis zum Bundesverfassungsgericht – wehren können, sondern sie verstecken sich in den Güterpreisen und greifen den Konsumenten quasi von hinten ins Portemonnaie. Genauso erklärt sich die Verlagerung der öffentlichen Lasten von den starken zu den schwachen Schultern im Verlauf der letzten Jahrzehnte. Allein die Staatsverschuldung von über zwei Billionen Euro beinhaltet eine Steuererleichterung der starken Schultern um diesen Betrag. Das sind etwa sechs Jahres-Bundeshaushalte! Das läßt sich auch nicht einzelnen Regierungen zuordnen, sondern wurde seit Beginn der siebziger Jahre prägend für die Abgabenpolitik. Wenn wir uns heute fragen, weshalb die Gesellschaft auseinanderrieselt wie loser Sand, und warum eine so unglaubliche Entwicklung wie die doppelte Kinderarmut Platz greifen konnte: Das sind die Gründe! Bei Familien kumulieren und kulminieren diese allgemeinen Ungerechtigkeiten nur.

Wie soll die „Reprogrammierung unseres Sozialstaats“, die Sie fordern, funktionieren?

Borchert: Das können Sie im einzelnen in meinem Buch „Sozialstaatsdämmerung“ nachlesen.

Drei Aspekte analysieren Sie darin mit Blick auf die Dysfunktionalität unseres Sozialstaats als essentiell: die doppelte Kinderarmut, die Einführung von Hartz IV und die Lohnspirale nach unten.

Borchert: Es sind noch ein paar mehr, etwa die falschen Begrifflichkeiten, das groteske Gerede von den „Kosten“ des Sozialstaats, ohne daß wir in der Lage wären, seinen „Nutzen“ in die Bilanz einzustellen. Aber gut: Die doppelte Kinderarmut habe ich schon erklärt. Aber warum ist diese – mal abgesehen vom moralischen Aspekt – so schlimm? Wenn wir immer weniger Kinder bekommen, fehlen uns irgendwann Arbeitskräfte.

Halt! Die Produktivität nimmt zu, so wird der Arbeitskräfteausfall doch aufgefangen.

Borchert: Sie lassen mich nicht ausreden! Und wenn die wenigen Kinder immer ärmer sind, leidet nämlich ihre Bildungsfähigkeit schon mit der Muttermilch – und das ist entscheidend. Denn der Produktivitätszuwachs ist kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis einer Produktivitätskette, die in den Familien mit der Erziehung bildungsfähiger Kinder beginnt. Und in der Zukunftsdisziplin „Bildung“ versagt Deutschland auf breiter Front. Unter anderem deshalb ist auch die Produktivitätsentwicklung seit Jahrzehnten rückläufig.

Armut ist doch wesentlich eine Folge von Arbeitslosigkeit und diese das Ergebnis des Arbeitsmarktes. Wollen Sie das leugnen?

Borchert: Und wie. Erstens müssen wir der Tatsache ins Auge sehen, daß die Zahlen der Sozialhilfeempfänger auch in jenen Jahren stiegen, in welchen die Arbeitslosenzahlen zum Teil deutlich sanken. Zweitens war seit dem Stabilitätsgesetz von 1967 bis zu den Hartz-Reformen die makroökonomische Verantwortung des Staates nicht nur Konsens, sondern gesetzlich normiert. Der Staat hatte ja mit der Fiskal- und Währungspolitik auch die Instrumente in der Hand, um den Arbeitsmarkt zu steuern. Dazu gehört ja nicht zuletzt, daß sich Gewerkschaften und Arbeitgeber auf Augenhöhe begegnen. All das wurde zum einen mit den Maastricht-Verträgen und den Hartz-Reformen über Bord geworfen. Der Staat hat massiv in die Marktmechanismen zu Lasten der Arbeitnehmer eingegriffen. Seit Maastricht ist Langzeitarbeitslosigkeit mehr denn je Ausdruck des Staatsversagens. Zum Beweis: In Gegenden mit Vollbeschäftigung leben weniger als ein halbes Prozent der Menschen von Hartz IV. Das zeigt, Schuldzuweisungen an die Arbeitslosen machen in den meisten Fällen die Opfer zu Tätern. Und wer dem vagabundierenden Großkapital bessere Verwertungsbedingungen auf Kosten des Humankapitals beschert, der betreibt Raubbau. Der aber rächt sich immer fürchterlich.

Was ist mit den anderen Aspekten, etwa der Lohnspirale nach unten?

Borchert: Die beschädigt nicht nur die Bildungsfähigkeit, sondern schwächt die Binnennachfrage und führt über kurz oder lang zum Kolbenfresser bei unseren volkswirtschaftlichen Aggregaten Konsum, Investition und Staatsverbrauch. Gleichzeitig konkurrieren wir, worauf jüngst die Weltbank, die OECD und andere hinwiesen, unsere Nachbarn durch unser Lohndumping in Grund und Boden. Wir beschädigen nicht nur unser eigenes Land, sondern auch Europa.

Was schlagen Sie vor? Das bedingungslose Grundeinkommen?

Borchert: Auf gar keinen Fall. Denn das würde Rechte von Pflichten trennen. Im Mittelpunkt meines Lösungskonzepts steht dagegen die Idee der Verantwortung. Es nennt sich „BürgerFAIRsicherung“ und basiert auf den Prinzipien, die ich genannt habe: Abkoppelung der Finanzierung von den Löhnen, Bemessung nach Leistungsfähigkeit, Umverteilung von oben nach unten, Transparenz und Familiengerechtigkeit. Dazu werden Alter, Krankheit, Pflege in einem Versicherungssystem für alle – inklusive Selbständige – zusammengefaßt. Ein solches einheitliches und transparentes System würde unseren Sozialstaat entschlacken, Ungerechtigkeiten beseitigen und leistungsfähiger machen. Die Beiträge könnten drastisch sinken und das freiwerdende Geld den Konsum ankurbeln, so könnte wieder ein echtes Wirtschaftswunder entstehen.

 

Dr. Jürgen Borchert, gilt als das „soziale Gewissen Deutschlands“ (Süddeutsche Zeitung), als „Robin Hood der Familie“ (Welt) und „Sozialrebell“, der „Sozialgeschichte geschrieben“ hat (FAZ). Der vorsitzende Richter am Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt erlangte vor allem durch seine Publikationen zur Familienpolitik und zur Sozialstaatsreform sowie durch seine Medienauftritte bundesweite Bekanntheit. Zudem war er an der Erwirkung dreier maßgeblicher familienpolitischer Urteile des Bundesverfassungsgerichts beteiligt: Trümmerfrauenurteil (1992), Pflegeurteil (2001) und Überprüfung der Hartz-IV-Regelsätze (2010). Von der CSU bis zur Linken hat Jürgen Borchert, geboren 1949 in Gießen, alle Bundestagsparteien, den Bundestag und die hessische Landesregierung beraten, außerdem sitzt er im Wissenschaftsbeirat von Attac. Seine jüngste Schrift „Sozialstaatsdämmerung“ (2013) – eben als Taschenbuch erschienen – sorgte erneut für Aufmerksamkeit in allen Medien.

Foto: Immer weniger Geld – die Familie als Opfer des Sozialstaats: „Die Wirklichkeit der sozialen Umverteilung bei uns sieht ganz anders aus, als die Leute sich das vorstellen“

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