© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/15 / 02. Januar 2015

Der zu kleine Unterschied
Zehn Jahre Hartz IV: Der Sozialstaat verteilt viel, aber oft nicht gerecht / Gerade Familien mit kleinem Einkommen werden benachteiligt
Christian Schreiber

Seit Einführung der Hartz-IV-Regelung zum 1. Januar 2005 sind die Kosten explodiert. Rund 6,1 Millionen Menschen beziehen Hartz IV beziehungsweise Sozialgeld, was gezahlt wird, wenn jemand nicht mehr erwerbsfähig ist. Davon sind 1,2 Millionen Ausländer, rund 290.000 von ihnen stammen aus der EU.

Im Oktober hatte der Spiegel berichtet, daß Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) 2013 bis zu eine Milliarde Euro mehr für Hartz-IV-Zahlungen in den Etat des Arbeitsministeriums einbringen mußte als ursprünglich geplant. Auch 2015 drohen demnach Mehrausgaben in vergleichbarer Höhe. Grund sind zu optimistische Annahmen des Finanzministeriums im Frühjahr. Trotz wachsender Beschäftigung sei die Zahl der langzeitarbeitslosen Hartz-IV-Empfänger nicht so stark gesunken wie angenommen.

Die Grundsumme, auch Regelleistung genannt, die ein Hartz-IV-Empfänger bezieht, beträgt (ab 1. Januar 2015) 399 Euro pro Monat. Diesen Regelsatz bekommen volljährige Alleinstehende, um damit ihren gesamten Lebensunterhalt, abgesehen von der Wohnung, zu bestreiten. Mit Ehepartner erhalten beide je 360 Euro. Personen unter 25 Jahre, die im Haushalt der Eltern leben, bekommen 320 Euro.

Zusätzlich erhalten die Empfänger auch noch Zuschüsse für Wohn- und Heizkosten. Nettokaltmiete, Betriebskosten, Heizung und Kaltwasser werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erstattet, wenn die Wohnfläche „angemessen“ ist. Eine alleinstehende Person darf zwischen 45 und 60 Quadratmeter bewohnen, pro weitere Person kommen 15 Quadratmeter hinzu.

„Nur wenigen Menschen geht es ohne Arbeit gut“

Die für die Betreuung und Bezahlung zuständige Bundesagentur für Arbeit (BfA) hat in den vergangenen Monaten durch gezielte Kampagnen versucht, das Bild zu widerlegen, Hartz-IV-Empfänger seien untätig. Nach BfA-Angaben waren zwei Drittel der Bezieher gar nicht untätig. 30 Prozent arbeiteten – die meisten davon als Minijobber. Zehn Prozent machten eine Ausbildung, weitere zehn Prozent absolvierten eine Maßnahme des Jobcenters, weitere zehn Prozent kümmerten sich um ihre kleinen Kinder, und fünf Prozent pflegten Familienangehörige. Der überwiegende Teil der Hartz-IV-Bezieher ist daher gar nicht zur Arbeitssuche verpflichtet. „Meiner Meinung nach gibt es nur wenige Menschen, denen es ohne Arbeit gutgeht. Und das meine ich nicht nur unter finanziellen Gesichtspunkten“, erklärte Heinrich Alt von der BfA gegenüber der Welt. Forscher haben im Auftrag seiner Behörde aber auch herausgefunden, daß sich 350.000 Hartz-IV-Empfänger gar nicht um eine Arbeit bemühen: „Viel spricht dafür, daß die meisten dieser Menschen ältere und kranke, chancenlose Arbeitslose sind, die resigniert auf die Rente warten“, sagt Alt.

Der Staat hat in den vergangenen Jahren einige Modelle ausprobiert, um Hartz-IV-Empfänger und Geringverdiener besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Künftig soll für verschiedene Wirtschaftszweige ein gesetzlicher Mindestlohn in Kraft treten. Der Staat will damit Anreize schaffen, damit sich Menschen nicht in das „soziale Nest“ fallen lassen, sondern sich aktiv um eine Arbeit bemühen.

„Es muß einen deutlichen Unterschied zwischen dem Geld geben, was der Staat Bedürftigen zahlen kann und was ein Mensch mit nach Hause nimmt, der dafür einer Arbeit nachgeht“, sagte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Ein Erwerbstätiger hat bisher dann Anspruch auf eine Aufstockung mit Hartz IV, wenn er weniger als 1.200 Euro brutto verdient. Dieser Betrag erhöht sich auf 1.500 Euro, wenn man sich um mindestens ein Kind kümmern muß.

So gering sich die Beträge anhören, in Teilen der Bundesrepublik sind sie trauriger (Lohn-)Alltag. Das Friseurhandwerk führt die Liste der am schlechtesten bezahlten Arbeit in Deutschland an. In Sachsen-Anhalt und Brandenburg bekommen Friseure ohne Gesellenbrief einen Tariflohn von gerade einmal 3,05 Euro pro Stunde. Auch in wohlhabenden West-Bundesländern ist die Bezahlung nicht gerade viel besser: Im teuren Hamburg zum Beispiel beträgt der niedrigste Stundenlohn im Friseurhandwerk 5,11 Euro. Selbst in Vollzeit kommt ein solcher Angestellter nicht einmal auf 1.000 Euro brutto im Monat.

Ob es durch die Einführung des Mindestlohns zu einer Entlastung kommt, darüber streiten bislang noch die Experten. Nach Modellberechnungen des Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit werden nur etwa 60.000 der Aufstocker durch den Mindestlohn nicht mehr auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen sein. Das ist weniger als jeder Zwanzigste. Auch der Anstieg des monatlichen Einkommens ist den Modellrechnungen zufolge mit zehn bis zwölf Euro gering. Dies liege unter anderem daran, daß Einkommen oberhalb von 100 Euro zu 80 Prozent mit dem Anspruch auf Arbeitslosengeld II verrechnet werden.

Für den Staat ergibt sich nach der Berechnung hingegen eine Entlastung von 2,2 bis gut drei Milliarden Euro. Steuer- und Sozialkassen profitieren demnach von einem höheren Erwerbseinkommen der Aufstocker. Als problematisch erweist sich die Tatsache, daß nur jeder Sechste dieses Personenkreises in Vollzeit arbeitet. Ein weiterer Grund sei oft die Haushaltsgröße. Vielfach reicht der Alleinverdienst eines Arbeitnehmers mit Hartz-IV-Unterstützung nicht für den Rest der Familie aus.

Hohe Sozialabgaben benachteiligen Familien

Daß Familien mit mehreren Kindern in Deutschland benachteiligt sind, ist ohnehin ein Teil der Debatte. „Familien sind die Packesel des Sozialstaats“, zitierte der Norddeutsche Rundfunk einen dreifachen Familienvater. Wer mehrere Kinder in die Welt setzt, wird im deutschen Sozialsystem doppelt belastet: Mütter, die nach der Geburt ihrer Kinder zweitweise aus dem Beruf aussteigen, müssen zum Beispiel später Einbußen in ihrer eigenen Rente hinnehmen, weil sie nicht genug einzahlen. Eine durchgehende Vollzeitstelle ist vor allem mit mehreren Kindern kaum zu bewerkstelligen. Außerdem gibt es für die Kosten der Kindererziehung keinen vollständigen Ausgleich. Und das, obwohl sich das deutsche Rentensystem in seinen Fundamenten auf Kinder stützt, da diese die künftigen Beitragszahler sind.

Einkommensschwache Familien ohne Hartz-IV-Unterstützung leben besonders dort mit hohem Armutsrisiko, wo die Mieten hoch sind. Dies gilt nicht nur für Metropolen, sondern zum Beispiel auch für Städte wie Jena. Dort, so ergab eine Untersuchung, stehe einer einkommensschwachen Familie mit zwei Kindern nach Abzug der Wohnkosten monatlich ein Betrag zur Verfügung, der 43 Prozent unter dem Hartz-IV-Satz für eine vergleichbare Familie liegt.

Wie eine von der Bertelsmann-Stiftung präsentierte Studie belegt, wird ein im Jahr 2000 geborenes Kind im Laufe seines Lebens durchschnittlich 77.000 Euro mehr in die Rentenkasse einzahlen, als es im Alter an Rente beziehen wird. „Unser Rentensystem benachteiligt Familien – ausgerechnet diejenigen, die das System am Leben erhalten“, rügt der Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, Jörg Dräger, gegenüber der Welt. Hohe Sozialabgaben benachteiligten Familien besonders, da bei den Beiträgen anders als bei der Einkommensteuer nicht berücksichtigt werde, daß Kinder die finanzielle Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.

Das Bundesverfassungsgericht zwang dabei bereits 2001 den Gesetzgeber, für Familien mit Kindern und für Kinderlose unterschiedlich hohe Beiträge zur Pflegeversicherung zu erheben. Passiert ist bis heute allerdings nur wenig. Die Bundesregierung lehnt eine Unterscheidung von Eltern und Kinderlosen bei den Rentenbeiträgen weiter ab. „Wir werden nie ein System finden, in dem jeder Bürger das Gefühl hat, alles gehe gerecht zu“, sagte Bundespräsident Joachim Gauck. Damit dürfte er recht haben.

 

Sozialstaat

„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“, stellt das Grundgesetz in Artikel 20 (1) fest. Daraus folgt, daß der Gesetzgeber sich um die „Herstellung erträglicher Lebensbedingungen für alle zu bemühen“ hat.

Als Sozialstaat ist dabei die Gesamtheit aller staatlichen Einrichtungen, Steuerungsmaßnahmen und Normen zu verstehen, mittels derer Lebensrisiken und soziale Folgen abgesichtert werden sollen. Seinen historischen Ursprung hat dieses System in den ersten Sozialversicherungen Otto von Bismarcks (1883 Krankenversicherungsgesetz ,1884 Unfallversicherungsgesetz und 1889 Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz).

Die Sozialleistungen werden untergliedert in:

• direkte Geldtransfers wie Renten, Arbeitslosengeld/Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe (Hartz IV),

• indirekte Geldtransfers, etwa in Form von Steuerermäßigungen wie Kinderfreibeträge und in

• soziale Sach- und Dienstleistungen (sogenannte Realtransfers) insbesondere in der Gesundheitsfürsorge oder in Form sozialer Dienste.

In Deutschland sind mittlerweile über 90 Prozent der Bevölkerung gegen die Risiken Alter, Invalidität, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Pflege abgesichert. Es gibt kaum jemanden, der nicht vom Sozialstaat erfaßt wird. Im Jahr 2013 wurden für die soziale Sicherung bei uns insgesamt fast 812 Milliarden Euro aufgewendet, was einer Sozialleistungsquote von 29,7 Prozent entspricht. Diese Quote lag (in der alten Bundesrepublik) 1960 noch bei knapp 20 Prozent, 1990 bei 25,6 Prozent.

Foto: Gegenüberstellung: Wie groß ist der Einkommensunterschied zwischen Beschäftigten (blau) und Hartz-IV-Empfängern (rot) am Beispielmodell einer Alleinstehenden (oben) und einer Familie (unten)? (Grafik siehe PDF)

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