© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/15 / 02. Januar 2015

Kleines Zimmer mit vielen Türen
Grinsekatze, Märzhase, Herzkönigin: Vor 150 Jahren erschien Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“
Günter Zehm

Um zwei fiktive Gestalten darf man die Briten ganz ungeniert beneiden: um Prinz Hamlet – und um Alice im Wunderland. Beide sind wie für die Ewigkeit gemacht und werden nie untergehen, solange es Literatur, Theater und Phantasie gibt. Aber während Hamlet nur Erwachsene interessiert, zieht Alice sämtliche Alters- und Gemütslagen in ihren Bann, vom Kleinkind bis zum Tattergreis, vom harten Geschäftsmann bis zum butterweichen Träumer und Weltverächter. Alice ist die Mächtigere.

2015 ist Alice-im-Wunderland-Jahr. Vor hundertfünfzig Jahren, 1865, erschien das legendäre Buch zum ersten Mal. Es war als Kinderbuch gemeint und entsprang der Feder eines schrulligen Junggesellen und Oxford-Gelehrten, der am Christ Church College über Mathematik und Logik dozierte, obwohl er einer alten Theologenfamilie im Nordwesten Englands entstammte und ursprünglich ebenfalls Theologie studiert hatte. Sein Name war Charles Lutwidge Dodg-son, er lebte von 1832 bis 1898 und starb infolge einer schweren Erkältung an Lungenentzündung, da er in seinen eiskalten Räumen am College zu sehr an Heizung gespart hatte.

Dodgson hatte einen Kollegen, den Dekan Lindell, zu dem er oft eingeladen wurde und dessen Kinder sich offenbar ziemlich langweilten. Und um sie zu unterhalten, erzählte der Dinnergast ihnen eines Tages (es soll im Sommer 1862 gewesen sein) die Geschichte von Alice im Wunderland. Die Kleinen, aber auch Professor Lindell selbst waren begeistert, „Onkel Charles“ mußte immer wieder noch einmal erzählen, das Ereignis sprach sich herum, alle drängten Dodgson, ein Buch daraus zu machen – und so erschien denn drei Jahre später unter dem Pseudonym „Lewis Carroll“ der Roman „Alice’s Adventures in Wonderland“.

Ein Mythos war geboren, und alle lieferten sich ihm im Nu aus, ob jung oder alt, reich oder arm, männlich oder weiblich. Alle waren sich darin einig, daß es sich „nur“ um ein Kinderbuch handelte, um ein „typisches“ Kinderbuch sogar, ja, um das Kinderbuch schlechthin und überhaupt. Und dennoch waren sich alle auch sofort darüber einig, daß es sich um viel, viel mehr als um ein bloßes Kinderbuch handelte, nämlich um ein hochkompliziertes, schier überkomplexes künstlerisches Gebilde, das zu wissenschaftlichen Exkursen und tiefsinnigen Diskussionen geradezu einlud.

Schnell war die Genre-Bezeichnung „Nonsens-Buch“ geboren. Was darin über Alice erzählt wird, ist ja der reine Nonsens, der pure Gegenwurf gegen alle Vernunft und gegen jeden guten Geschmack! Doch man konnte sich trotzdem nicht darüber ärgern, denn die in dem Buch erscheinenden Figuren sind durch die Bank ästhetisch höchst akzeptabel, sie sind anmutig und charmant in ihrer spontanen, gleichsam mathematisch vorbestimmten Ernsthaftigkeit, gleichzeitig aber äußerst komisch und zum Lachen reizend. „Eine herrliche Gleichung mit lauter Unbekannten“, wie Bertrand Russell einmal dazu sagte.

Den Inhalt von „Alice im Wunderland“ präzise nachzuerzählen, ist ebenso unmöglich wie überflüssig; jedes Kind kennt ihn, die Geschichte also von dem kleinen Mädchen Alice, das gelangweilt seiner älteren Schwester zuhört, die ihm ein hochmoralisches Kapitel aus dem Schullesebuch vorliest. Alsbald fallen ihm die Augen zu, es schläft ein und beginnt zu träumen. Ein weißes Kaninchen erscheint, blickt besorgt auf seine Taschenuhr und fürchtet, zu spät zu kommen.

Alice folgt ihm neugierig in seinen unterirdischen Bau, wobei sie sich zu ihrem eigenen Erstaunen ganz klein machen kann. Sie fällt plötzlich in unabsehbare Tiefen und findet sich wieder in einem kleinen Zimmer mit vier verschlossenen Türen. Zu einer der Türen entdeckt sie in ihrer Schürzentasche einen Schlüssel, schließt auf, kann aber nicht hinein, weil sie inzwischen wieder richtig groß geworden ist. Gottlob ist in der Schürzentasche auch ein Fläschchen mit einem Klein-mache-Trunk, und Alice trinkt ihn. Doch inzwischen klappt die Tür wieder zu, und der Schlüssel paßt nun auch nicht mehr.

Nach vielem Hin und Her, Großwerden und wieder Kleinwerden, gelangt Alice schließlich ins „Wunderland“ und begegnet dort sonderbaren Gestalten, die alle ganz ähnliche Probleme haben wie sie selbst. Da ist die berühmte Grinsekatze, der Märzhase, die Herzkönigin, welche unbedingt jemandem den Kopf abschlagen möchte, der Schildkrötensupperich. Am Ende kommt es zu einer ausgedehnten Gerichtsverhandlung gegen Alice & Co., aber Alice ist gerade wieder mal am Größerwerden, sie verursacht ein wildes Chaos unter Richtern, Angeklagten und Zeugen – und wacht neben ihrer strengen Schwester wieder auf.

Wohl kaum je ist ein Erzählbuch so schnell und so stürmisch angenommen worden wie „Alice im Wunderland“. Schon nach wenigen Monaten gab es unverhohlene Nachahmungen, unautorisierte „Fortsetzungen“, wüste Parodien. Doch auch die seriöse, damals die Moderne einleitende Avantgarde-Literatur. Hamsun, Strindberg, James Joyce haben viel von Carroll gelernt. Ein Werk wie „Finnegans Wake“ von Joyce wäre ohne Erinnerungen an „Alice im Wunderland“ gar nicht möglich gewesen.

Zur Zeit gilt Stephen King als der erfolgreichste „Carollianer“. In seinem Roman „Tot“ wird der Junge Jake in der sterbenden Stadt Lud von einem Verrückten entführt und ohne Ende durch schier endlose unterirdische Labyrinthe gezerrt, genau wie es die böse Herzkönigin der armen Alice antut.

Aber auch die Verfasser der heute so modischen Dystopien kommen ohne ständige Anleihen bei Lewis Carroll nicht aus. Man denke an die Erzählung „Der Samenbankraub“ von Gert Prokop, dessen Detektiv, der Reproduktionsmediziner Timothy Truckle, Zugang zu einer riesigen Sammlung verbotener Literatur erhält. Doch das einzige Buch, das er zu lesen wünscht, ist „Alice im Wunderland“.

Zudem gibt es zahlreiche Filme in der Spur des berühmten Epochenbuches. Wim Wenders hat einen seiner Filme sogar ausdrücklich mit einem auf Alice anspielenden Titel versehen: „Alice in den Städten“; es ist die Geschichte der Odyssee eines kleinen Mädchens und seines erwachsenen Begleiters, seines weißen Kaninchens, durch das im totalen Umbau befindliche Ruhrgebiet. Und Robert De Niro sagt als verstörter Taxichauffeur Bickle in Martin Scorseses Streifen „Taxi Driver“, wie jeder Kinofreund sich erinnern wird, in höchster Verwirrrung das Alice-Gedicht von Humpty Dumpty auf.

Carroll selbst hat die Geschichte seiner Alice in einigen Bänden fortzusetzen versucht: „Alice hinter den Spiegeln“, „The Hunting of the Snark“. Aber keines dieser Werke reichte auch nur im entferntesten mehr an die Dimension des Ursprungsbandes heran. Einzig in ihm meldet sich jene paradoxale Mischung aus komplettem Nonsens und genauester Benennungssicherheit sowie aus Dämonie und Anmut zu Wort; dergleichen gelingt der Sprache, jeder Sprache, nur ganz selten. Wie der Blitz erhellt sie dann die geistige Landschaft, und ihr donnernder Witz erschreckt nicht, sondern stimmt heiter und reizt zu Abenteuern an.

Nur Kinder und Mathematiker, hat Carroll zu einer seiner Schwestern gesagt, können die paradoxe Sprache von Alice im Wunderland wirklich verstehen, denn es sei die Sprache des Ouroboros, jener Schlange, die sich in den Schwanz beißt und die bei den alten Griechen als erhabene Hieroglyphe der Ewigkeit galt. Daher rühre ja leider auch die Schwierigkeit für die Übersetzer seines Buches in andere Sprachen. Sie müßten außer den beiden Sprachen, aus der beziehungsweise in die sie übersetzen, auch noch die Sprache der Kinder und die Sprache der Mathematiker erlernen. Wem gelinge das schon.

Tatsächlich kann eine Übersetzung der Alice, und sei sie die genialste, immer nur eine Art Sprachkrücke sein; die volle Wirkung all der Wortspiele und ernsthaften Scherze, welche zudem meistens noch schlau verkappt sind, bleibt dem Original vorbehalten. Unter den vielen deutschen Übersetzungen wären wohl vor allem die von Antonie Zimmermann (Leipzig 1869) und die von Christian Enzensberger von 1963 zu empfehlen. Die von Frau Zimmermann hat Lewis Carroll selbst noch sorgfältig gelesen und sie sehr gelobt und seine Genugtuung darüber ausgesprochen.

Die aus wüsten 68er-Zeiten stammende Enzensberger-Fassung war zwar die Tat eines überzeugten Kommunarden und Maoisten, aber auch die eines Mannes, der sein Leben lang nicht richtig erwachsen wurde und bis an sein Ende ein ausgesprochener Kindskopf war. Das kam ihm bei seiner Arbeit zustatten. Am besten, man versucht, Zimmermann und Enzensberger irgendwie „zusammenzulesen“. Am allerbesten ist und bleibt natürlich das Original.

Foto: Disneys Zeichentrick-Adaption des Kinderbuch-Klassikers „Alice im Wunderland“ (1951): Begegnung mit sonderbaren Gestalten

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen