© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/15 / 02. Januar 2015

Sie stellen die Systemfrage
Zur Phänomenologie des neuen Wutbürgers
Michael Paulwitz

Wer oder was ist ein Wutbürger? Seit Jan Timke mit seinen „Bürgern in Wut“ die Bremer Bürgerschaft aufmischt, ist der Begriff in der Welt. Zum „Wort des Jahres“ wurde der „Wutbürger“ im Sarrazin- und „Stuttgart 21“-Jahr 2010, nachdem Dirk Kurbjuweit in einem Spiegel-Essay mit ihm abgerechnet hatte. Wutbürger, definierte der Chef des Spiegel-Hauptstadtbüros, seien meist ältere, saturierte Herrschaften, die nur an sich dächten und Neues ablehnten, weil sie ja selbst genug hätten. Sie hätten der Politik die Gefolgschaft aufgekündigt, weil sie über ihre Köpfe hinweg entscheide, sie „brüllen und hassen“, statt bürgerliche Gelassenheit zu zeigen, und wollten nicht mehr staatstragend sein, weil ihnen der Staat fremd geworden sei.

Kurbjuweit packt Stuttgarter Tiefbahnhofs-Gegner mit Sarrazin-Anhängern zusammen, beschreibt aber vor allem eine grüne Stammklientel: die schon pensionierten oder sich dem Rentenalter nähernden Generationen der Alt-68er und Achtziger-Jahre-Protestmarschierer. Prompt wurde der „Wutbürger“ aus dieser Ecke in Schutz genommen, in einer Replik im Hamburger Nachrichtenmagazin als „Mutbürger“ rehabilitiert und für sein „Sich-Einbringen“ und sein gerechtes „Empört euch“ gefeiert. Mit dem gleichnamigen Manifest des französischen Altlinken Stéphane Hessel war er in der linken Ikonographie angekommen. „Wutbürger“ wurde zum Geusenwort, zum von den Abqualifizierten mit Stolz getragenen Ehrentitel.

Mainstream-Medien das Vertrauen entzogen

Im Rahmen der grünen Diskurshegemonie ist auch der Wutbürger eingebürgert, solange er sich korrekt über Infrastrukturprojekte oder, als „Blockupy“, über Banken empört. Der gezähmte Wutbürger erfüllt dann in Wahrheit eine systemstabilisierende Funktion, wenn er – wie in Stuttgart – dem grünen Establishment beim Ausbau seiner gesellschaftlichen Macht sogar noch behilflich ist. Entsprechend genervt ist die zu Dienstwagen und Ministersessel gekommene grüne Nomenklatura denn auch, wenn plötzlich neue Wutbürger-Bewegungen gegen grüne Politik Front machen – gegen Windradinflation und Schwarzwaldabholzung für die Energiewende, zum Beispiel.

Vollends vorbei mit dem Verständnis ist es, wenn neue Wutbürger massiv gesellschaftspolitische Ikonen der politisch-medialen Klasse anzweifeln. Die „Demo für alle“-Bewegung, die sich gegen den Anschlag auf Familie und Elternrecht durch Frühsexualisierung an den Schulen und Bildungsgleichschaltung wehrt, bekam das zuerst zu spüren. Und erst recht die Pegida-Demonstranten, die es wagen, die heiligen Kühe Multikulturalismus und Einwanderungsindustrie in Frage zu stellen und damit die Sarrazin-Geister wiederzubeleben, die man doch eben noch mit der Erfindung des linken „Wutbürgers“ beschworen hatte.

Dabei sind sie die echten „Wutbürger“, weil sie nicht nur der politischen Klasse und den von ihnen okkupierten und mißbrauchten Institutionen, sondern auch dem Medien-Mainstream das Vertrauen entzogen haben, der den Establishment-Konsens mal drohend, mal belehrend stets verteidigt. Sie passen mit ihrem hohen Anteil an jungen Leuten, oft mit Familie, die sich um die Zukunft sorgen, auch nicht ins Schema der alten Angsthasen.

Was an den domestizierten „Wutbürgern“ gelobt wird – Sturheit, Unwille zum Kompromiß, „diffuse Ängste“ – vor Globalisierung, Investmentbanken, Atomkraft, Tiefbahnhöfen –, wird diesen neuen Wutbürgern unbarmherzig um die Ohren geschlagen. Sie lassen sich nämlich nicht instrumentalisieren, um Machtverschiebungen innerhalb des Establishments zu erreichen. Ihr bloßes Erscheinen stellt die Systemfrage.

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