© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/15 / 02. Januar 2015

Mit dem Grabstichel in die Kupferplatte geritzt
An der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit: Vor einem halben Jahrtausend entstanden Albrecht Dürers Meisterstiche
Reinhold Böhnert

Im graphischen Werk Albrecht Dürers befinden sich drei Kupferstiche, die in formaler wie in intellektueller Hinsicht einzigartig sind. Diese „Meisterstiche“ entstanden 1513/1514, vor nunmehr einem halben Jahrtausend – zu einer Zeit, als sich nicht nur Dürers Kunstschaffen voll entfaltete, sondern auch die europäische Renaissance ihren Zenit erreichte.

Doch während in Rom Raffael und Michelangelo gewaltige Wand- und Tafelbilder schufen, brachte Dürer in Nürnberg seine Bilder meist aufs Papier. Nicht daß er die Malerei vernachlässigt hätte – er hinterließ immerhin sechs große Flügelaltäre, zahlreiche Porträts und, nicht zu vergessen, die monumentalen Aposteltafeln von 1526 –, doch Dürers Ausnahmestellung innerhalb der deutschen Kunst liegt vor allem auf dem Gebiet der Zeichnung und der Graphik. Er scheint auf exemplarische Weise zu bestätigen, was man oft von der deutschen Kunst gesagt hat, daß sie nämlich eine Neigung zur Linie habe. Solche Generalisierungen hören sich interessant an, sind im allgemeinen aber nicht sehr hilfreich. In tausend Jahren deutscher Kunstgeschichte hat es auch echte Maler unter den bildenden Künstlern gegeben. Erinnert sei nur an Dürers Zeitgenossen und Antipoden Matthias Grünewald, der im elsässischen Isenheim zwischen 1511 und 1515 einen Flügelaltar, ein Malwerk schlechthin schuf, wie es für Dürer ganz unvorstellbar gewesen wäre.

Die drei Meisterstiche Dürers sind von gleicher Größe (etwa 24 x 19 cm), behandeln aber ganz unterschiedliche Themen. Der erste von 1513 ist unter dem Titel „Ritter, Tod und Teufel“ in die Kunstgeschichte eingegangen. Dürer nennt ihn schlicht „Reuter“ und deutet damit an, daß bei diesem Kupferstich für ihn eigentlich nur die anatomisch richtige Darstellung eines Pferdes mit Reiter im Vordergrund stand.

Aus dem Jahr 1498 ist eine Zeichnung überliefert, die diesen Kupferstich schon ahnen läßt, doch da steht das Pferd still. Dürer braucht noch mehrere Jahre, bis er sich seiner Sache sicher ist und den vielleicht von einer Zeichnung Leonardos inspirierten „Reuter“ in Bewegung zeigt – ob im Schritt oder im Trab wird nicht ganz deutlich. Anatomische Mängel weist auch der rennende Hund mit seinen ausgestreckten Vorderpfoten auf. Im unteren Viertel des Blattes herrscht ein wahres Gewimmel von Extremitäten. Auch der Tod sitzt auf einem Pferd, dessen Beine zu berücksichtigen waren, ebenso einer der beiden Pferdefüße des Teufels, der dem Ritter auf seinem prachtvollen Roß, das in „plastischer Form in größter Deutlichkeit“ (Heinrich Wölfflin) gegeben ist, mit seinen Schweinsaugen nachglotzt.

Wechselspiel von Licht und Schatten

Wie der landschaftliche Hintergrund sind dies alles Zutaten, die aber nötig waren, um den Kupferstich für das Publikum begehrenswert zu machen. 500 bis 1.000 Abdrucke wollten verkauft sein. Und so ist es gekommen, daß Dürer seinen „Reuter“ als zeitgenössischen Ritter verkleidete, den man auch als den um 1500 populären christlichen Kämpfer des Epheser-Briefes im Neuen Testament (6, 10-18) auffassen konnte, selbst wenn auf dem Blatt kein christliches Symbol zu finden war.

Dem tatendurstigen Ritter, der weder Tod noch Teufel fürchtet, folgt Anfang 1514 der heilige Hieronymus in seiner Studierstube, in seinem „Gehäuse“. Ein Themenwechsel, wie er drastischer nicht sein konnte. Dürer hatte den Kirchenvater und Bibelübersetzer schon vorher mehrfach gezeichnet, 1511 sogar in einem Holzschnitt dargestellt. Man sieht ihn dort auch am Schreibpult, beschützt von seinem Löwen, aber das noch spätgotisch wirkende „Gehäuse“ ist eng und fensterlos.

Drei Jahre später setzt Dürer seinen Protagonisten in eine geräumige, perspektivisch korrekt konstruierte Studierstube, die nichts mehr mit einer Mönchszelle zu tun hat. Bei genauer Betrachtung erkennt man jedoch, daß Hieronymus weiterhin in einem abgeteilten Raum präsentiert wird, der einer Bühne gleicht. Bei der Decke, der Rückwand und dem Fußboden handelt es sich um hölzerne Einbauten, bei denen man auch an Kulissen denken könnte.

Dürer hat in diesem Stich viel Nürnberger Lebenswirklichkeit untergebracht. Nichts von dem, was er mit dem Grabstichel in die Kupferplatte geritzt hat, ist zusammenphantasiert oder erfunden: das Mobiliar, die Kissen und Bücher, die Pantoffeln, die Sanduhr, der Kardinalshut, die vielen Kleinigkeiten an der Rückwand und die Baulichkeit selbst – alles wirkt echt. Manches hat symbolische Bedeutung, so der schwere Kürbis, der von der Decke hängt. Wie der Totenschädel und die Sanduhr steht er für die Vergeblichkeit allen menschlichen Tuns.

Fast überwältigend ist die Stille, die an dem Ort herrscht, wo Hieronymus die Heilige Schrift ins Lateinische übersetzt. Man meint nur das Kratzen der Feder auf dem Pergament zu hören. Oder schreibt Hieronymus hier schon auf Papier? Der Löwe döst vor sich hin. Der Hund aber schläft fest, ruht sich aus von dem Gerenne hinter dem Pferd des Ritters her. Und in diese stimmungsvolle Ruhe strömt auf eine bis dahin in der Druckgraphik noch nicht gesehene Weise durch Butzenscheiben das Licht der Morgensonne. Im Wechselspiel mit seinem Widerpart, dem Schatten, breitet es sich überallhin aus und verleiht dem „Gehäuse“ des Hieronymus mit allem, was sich darin befindet, fast malerische Qualität.

Im dritten Meisterstich überwiegen die Schatten. Das Licht kommt von rechts, von einer untergehenden Sonne. Sie beleuchtet eine breit und untätig dasitzende, reich gekleidete Frauengestalt mit Flügeln. Die zur Faust geballte linke Hand stützt den schweren Kopf. In der Rechten hält sie lustlos einen Zirkel, und in ihrem Schoß liegt ein geschlossenes Buch. Wer gemeint sein könnte, teilt links oben im Bild ein Schriftband mit, das von einer Fledermaus gehalten wird. Dort steht in Großbuchstaben: Melencolia I.

Dürer strebte nach Unabhängigkeit

Ins Bild gebracht ist also eines der vier Temperamente – zu denen von alters her neben dem melancholischen noch das sanguinische, das cholerische und das phlegmatische gezählt werden –, über die schon Aristoteles nachgedacht hatte. Eingehend befaßte sich der griechische Philosoph mit der Melancholie, weil sie ihm nicht nur, wie später dem Mittelalter, ein krankhafter Gemütszustand, sondern auch eine Begleiterscheinung höchster geistiger Produktivität zu sein schien. Die italienische Renaissance nahm diese Theorie auf, die bei seiner zweiten italienischen Reise von 1505 bis 1507 auch Albrecht Dürer erreichte. 1514 gelang ihm eine bildliche Umsetzung, die klassisch zu nennen ist – aber noch immer Rätsel aufgibt.

Die depressiv wirkende weibliche Hauptgestalt, deren Flügel an einen Genius erinnern, befindet sich in einem Chaos von Objekten vielfältiger Art. Zu ihren Füßen liegt Handwerkszeug, das Zimmerleute benutzen, wie Hammer, Zange, Nägel, Säge, Hobel, Richtscheit. Auf Maurer und Steinmetzen deuten eine steinerne Kugel, ein Mühlstein und ein unregelmäßiger Steinblock hin. In dieser mittleren Zone befinden sich auch zwei Lebewesen, wieder ein Hund, aber abgemagert und wohl auch krank, und ein ebenfalls geflügelter Knabe, der auf einer Tafel herumkritzelt.

Das allgemeine Durcheinander macht im oberen Bildabschnitt dem erkennenden und ordnenden menschlichen Geist Platz. Dort sieht man eine Waage, eine kombinierte Sonnen- und Sanduhr, eine Glocke, von der man nicht weiß, wer sie läuten könnte, und ein von Dürer selbst erdachtes magisches Quadrat, das die Jahreszahl 1514 enthält.

Dies alles befindet sich an einem nicht näher gekennzeichneten Gebäude, an dem eine Leiter lehnt, und symbolisiert die mentalen Abwehrkräfte gegen die Melancholie. Schützen können auch bestimmte Kräuter, welche, zum Kranz gebunden, die Dame Melancholie auf dem Kopf hat. Als heller Stern mit einem Unheil verheißenden Kometenschweif erstrahlt in der Ferne über dem Meer der Planet Saturn. Er galt als ein Verursacher der Melancholie.

Wenn dieser Kupferstich tatsächlich ein „geistiges Selbstbildnis“ sein sollte, wie der große Dürer-Forscher Erwin Panofsky meinte, dann läßt er in eine prekäre Existenz blicken. Für Albrecht Dürer, der als erster deutscher Künstler die Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit überschritt, war die bildende Kunst nicht mehr Handwerk im Schutze von Kloster, Bauhütte und Zunft. Dürer strebte nach Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung.

Die Kehrseite dieser neuen Freiheit blieb ihm aber nicht verborgen, und er scheint die Folgen geahnt zu haben. Insofern ist der Kupferstich mit der „Melancholie“ auch ein frühes Sinnbild des modernen Künstlers.

Foto: Albrecht Dürer (1471–1528), Meisterstiche (v.l.n.r.) Ritter, Tod und Teufel (1513), Der heilige Hieronymus im Gehäus (1514) und Melencolia I (1514): Symbolische Bedeutungen

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