© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/15 / 02. Januar 2015

Anatome auf Abwegen
Frische Leichen und kalte Herzen: Ethik und Politik in den modernen Biowissenschaften
Winfried Ratjen

Neben dem Auschwitz-Arzt Josef Mengele ist es August Hirt, der im kollektiven Gedächtnis das Bild von der nationalsozialistischen „Medizin ohne Menschlichkeit“ am nachhaltigsten prägte. Der Straßburger Anatom führte 1942 mit Kampfgas Humanexperimente an Häftlingen im elsässischen KZ Natzweiler-Struthof durch, verdankt aber seine schaurige Berühmtheit dem später gefaßten Plan einer Skelettsammlung. Dafür ließ er 86 jüdische Häftlinge in Auschwitz auswählen, nach Struthof transportieren und dort in der Gaskammer töten. Zur Skelettierung dieser Opfer kam es jedoch nicht mehr, so daß nach der Eroberung Straßburgs im November 1944 alliierte Truppen deren Leichen und Leichenteile in Hirts Institutskeller fanden.

Für die Kinderheilkundlerin Sabine Hildebrandt (Boston) ist August Hirt kein bizarrer Doktor Seltsam, der allenfalls als kurioser Außenseiter seiner Wissenschaft einzustufen wäre. Und seine Biographie ist aus Hildebrandts Blickwinkel zudem kein nur für Spezialisten der Anatomiegeschichte relevanter Fall. Vielmehr stehe Hirt sowohl für den Alltag seiner Disziplin im Dritten Reich wie auch für die nicht auf die NS-Zeit zu beschränkende permanente Gefahr „ethischer Entgrenzung“ medizinischer wie naturwissenschaftlicher Forschung (Medizinhistorisches Journal, 48/2013).

NS-Experimente als warnendes Exempel

Allerdings bot gerade das NS-Regime den knapp 250 Anatomen, die an deutschen Universitätsinstituten tätig waren, ungewöhnlich „verlockende“ Bedingungen wissenschaftlicher Arbeit. Auslöser dafür war ein „Wandel der Leichenversorgung“. Zu den „traditionellen Quellen“ für die Anatomie, Selbstmördern, in Irrenanstalten und Krankenhäusern Verstorbenen sowie knapp 200 in der Weimarer Republik Hingerichteten, kamen nach 1933 12.000 Hinrichtungsopfer der drakonischen NS-Strafjustiz, ferner Euthanasie-Tote und verstorbene oder ermordete Lagerhäftlinge. Von den 14.377 bis 1945 in 14 bisher erfaßten anatomischen Instituten eingelieferten Leichen ist für 3.406 der Hinrichtungstod dokumentiert. Schätzungen gehen von bis zu 40.000 abgelieferten Leichen in allen 30 reichsdeutschen Instituten aus, wodurch sich auch die Zahl der Hingerichteten entsprechend erhöhen dürfte.

Wenn etwa der Berliner Anatom Hermann Stieve die „frische“ Leiche von Rose Schlösinger, der Schwiegermutter des Schriftstellers Rolf Hochhuth, die als Mitglied der „Roten Kapelle“ wegen Spionage hingerichtet worden war, auf den Sektionstisch bekam, dann lag ihm damit exzeptionelles „Material“ für seine Untersuchungen über den Einfluß des Nervensystems auf weibliche Reproduktionsorgane vor. Das gelte ebenso für Leichen der mit ihren Kindern im Uterus enthaupteten Widerständlerinnen.

Wegen „der bis dahin unbekannten Kaltblütigkeit“ sei hier, wie bei ähnlich „forschungsaktiven“ Kollegen Stieves, die Neues über Lungenarchitektur oder Details zur Präzisierung anatomischer Atlanten ermittelten, jedoch nur die erste Stufe der Entgrenzung erreicht worden. Denn das traditionelle anatomische Paradigma, Erkenntnisgewinn aus der Arbeit mit Toten, hätten Stieves Studien nicht gesprengt. Diesen Schritt über die letzte ethische Schwelle vollzogen hingegen Anatomen, die wie August Hirt „moralisch skrupellos“ vom Tier- zum Humanversuch übergingen, um mit „zukünftigen Toten“ zu forschen. Hier sei die Tötung von Menschen Teil des Versuchsplans gewesen.

Hildebrandt will diesen Irrweg der Anatomie als warnendes Exempel für die fatale getrennte Wahrnehmung von Wissenschaft, Ethik und Politik in den „Biowissenschaften der Moderne“ verstehen, da in der gegenwärtigen Anatomie und Medizin Triebkräfte moralfreien Erkenntnisstrebens noch virulent seien. Die Aufklärung über Fehlentwicklungen in der jüngeren Geschichte dieses Grundlagenfaches sollte daher künftig in die medizinisch-ethische Ausbildung von Ärzten Eingang finden.

Foto: „Seziertisch“ für medizinische Experimente im KZ Natzweiler-Struthof: Die Tötung von Menschen war fester Teil des Versuchsplans

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen