© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/15 / 09. Januar 2015

Quo vadis, Britannia?
Vor der Wahl: Nigel Farage setzt Premier David Cameron unter Druck. Der will mit einer Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft punkten
Markus Brandstetter

In Shakespeares Tragödie „Richard III.“ beginnt der spätere König Richard, der am Anfang zunächst noch Herzog von Gloucester ist, seinen berühmten Monolog mit diesen Worten: „Nun ward der Winter unsers Mißvergnügens glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks.“

Richards Worte werden so manchem britischen Spitzenpolitiker im Moment durch den Kopf gehen, denn für die Chefs aller britischen Parteien – mit der einen Ausnahme von Ukip – ist dies ein Winter des Mißvergnügens, und sie alle hoffen, wenn schon nicht auf einen glorreichen Sommer, so doch auf einen solchen Frühling, denn am 7. Mai 2015 wählen die Briten ein neues Parlament.

Die bevorstehenden Wahlen zum Unterhaus sind die wichtigsten seit jenen im Februar 1974, weil es sein könnte, daß 2015, genau wie 1974, keine Partei eine regierungsfähige Mehrheit erringt. Dies würde zu einem „hung parliament“, einem hängenden Parlament führen, wie die Briten das nennen. In Staaten mit Verhältniswahlrecht wie in Deutschland, Österreich oder Italien wäre eine solche Situation vollkommen normal und würde durch eine Koalitionsregierung gelöst, im Vereinigten Königreich hingegen, wo nach Mehrheitswahlrecht abgestimmt wird, gilt ein „hung parliament“ als nicht regierungsfähig. Deshalb sind die Briten 1974 auch zweimal zur Wahl gegangen, weil es der Labour Party im ersten Wahlgang nicht gelungen war, eine eindeutige Mehrheit zu erzielen.

Mittelschicht in zahlreiche Milieus aufgelöst

Sollte im Mai 2015 tatsächlich keine Partei eine mehrheitsfähige Regierung bilden können, wären die Gründe dafür vollkommen andere als im Jahr 1974. Damals spielte sich das Rennen zwischen den Konservativen und den Sozialdemokraten ab, die beide in der ersten Wahl jeweils exakt 37 Prozent der Stimmen auf sich vereinigten. 1974 konnten sich noch 92 Prozent aller Briten entweder mit den Sozialdemokraten oder den Konservativen identifizieren, heute liegt diese Zahl bei 66 Prozent. Das bedeutet, daß sich mehr als ein Drittel aller Briten nicht mehr bei den Parteien der Mitte aufgehoben fühlt – und genau die zentrifugalen Kräfte hinter dieser Tendenz machen den Ausgang der Wahl in diesem Jahr so unberechenbar.

Für die zu erwartenden unsicheren Mehrheitsverhältnisse gibt es gute Gründe: Immer weniger Wähler fühlen sich einer Schicht oder Klasse zugehörig; immer weniger denken so wie ihre Nachbarn, Freunde, Vereinsmitglieder oder Kollegen in der Firma. Diese Zersplitterung der Wählerschaft, die auch in Deutschland, Frankreich und Italien zu beobachten ist, spielt in Großbritannien eine noch größere Rolle als woanders, weil die hundert Jahre alte feste Einbindung der Bürger in Klassen in Großbritannien binnen dreier Jahrzehnte fast vollständig verschwunden ist, die Gewerkschaften ihre einst ungeheure Macht einbüßten und die Mittelklasse sich in acht oder zehn unterschiedliche Milieus aufgelöst hat. Deren Wahlverhalten kann kein Mensch mehr präzise vorhersagen.

Im Moment regieren die Konservativen zusammen mit den Liberal Democrats, dem britischen Äquivalent der FDP, in einer Koalitionsregierung mit einer Mehrheit von 75 Stimmen, auch wenn die Tories, wie die Konservativen traditionell genannt werden, bei Nachwahlen zwei Sitze an die UK Independence Party (Ukip) verloren haben. Bei der Wahl im Mai 2015 sind 650 Sitze im britischen Unterhaus zu vergeben, eine Regierung braucht also 326 Stimmen, um regieren zu können. Im Moment verfügen die Konservativen und die Liberal Democrats zusammen über 359 Stimmen, Labour besitzt 257.

Meinungsforscher rechnen damit, daß im Mai die Labour Party die Wahl gewinnen wird. Das überrascht, denn erstens hat die konservative Regierung unter David Cameron ihre Sache gar nicht so schlecht gemacht, und zweitens ist Ed Miliband, der Führer der Sozialdemokraten, vermutlich der unbeliebteste Politiker in ganz Großbritannien. Wie kann es zu solchen Prognosen kommen, und was stimmt jetzt wirklich?

Das Hintergrundrauschen für die ganze Wahl gibt die wirtschaftliche Entwicklung des Landes ab. Die ist mehr als gut. Das Land hat die Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 vollkommen überwunden, das Bruttoinlandsprodukt liegt heute um 3,4 Prozent höher als vor der Krise, die Arbeitslosigkeit liegt bei historisch niedrigen sechs Prozent – nie hatten mehr Briten einen Job als heute. Im vergangenen Jahr ist die britische Wirtschaft um satte 3,2 Prozent gewachsen, das ist das höchste Wachstum unter allen Industrienationen, ja das Land hat 2014 sogar Frankreich von der Wirtschaftsleistung her überholt und ist nun die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt.

Das alles müßte eigentlich Balsam auf die Wunden der Briten sein, die seit Jahrzehnten unter dem Abstieg des Empires leiden, aber „bigger is not better“, wie der britische Economist schrieb, denn Großbritannien hat immer noch zwei Millionen Arbeitslose und eine hartnäckig am Rande der Armut verharrende Unterschicht, deren Realeinkommen seit Jahren sinkt. Diese Briten kommen seit Jahren durch den Zustrom von Einwanderern aus der EU, hauptsächlich aus Polen und Rumänien, unter Druck, weil die Migranten hinter ihren ohnehin schon schlechtbezahlten Jobs her sind.

Vorgezogenes Referendum über Verbleib in der EU?

Und genau da will Ed Miliband, der Führer der Labour Party, ansetzen, ohne allerdings die Immigration irgendwie zu beschränken. Miliband, Spitzname „Red Ed“, steht politisch weit links und redet schon von „Raubtierkapitalismus“, wenn er nur die Stromrechnung meint. Er sspricht jedoch mit einem heiseren Oxford-Akzent, der sein ständig hervorgekramtes Verständnis der Arbeiter Lügen straft. Von den normalen Menschen ist er dermaßen weit entfernt, daß er bei Interviews regelmäßig nicht weiß, was ein Stück Butter kostet oder wie man einen Burger ißt. Miliband hat keinen Draht zum Mann auf der Straße.

Den hat dafür Nigel Farage (siehe Interview auf Seite 3), der Vorsitzende von Ukip, dem (vereinfacht gesagt) britischen Äquivalent der AfD. Farage ist all das, was Miliband und Cameron nicht sind: ein unkonventioneller Denker und ein begeisternder Redner mit einem Gespür für Themen, die die Leute angehen. Farages Agenda ist im Gegensatz zu jener David Camerons, der ständig herumeiert und nie weiß, ob er nur ein bißchen oder auch einmal richtig konservativ sein darf, vollkommen klar: Die Ukip will Großbritannien aus der EU und dem Schengen-Abkommen herauslösen, die Zuwanderung von Migranten stark begrenzen, die Steuern senken, den Einfluß des Staates auf die Bürger wieder zurückfahren und das Land stark, sicher und unabhängig machen.

Farage ist patriotisch, ohne sich dafür zu schämen, und hat ein starkes Interesse daran, daß in Dörfern und Kleinstädten Verwaltung, Polizei, Müllabfuhr und Schulen wieder funktionieren, die Menschen sich auch nachts auf die Straße trauen und Häuser und Wohnungen einigermaßen erschwinglich bleiben.

Diese Botschaften kommen bei den Wählern zunehmend an, und Farage ist heute einer der bekanntesten britischen Politiker, der witzigste und eloquenteste sowieso. Nur hat sich das bislang in den Wahlresultaten der Partei nicht niedergeschlagen. Noch 2010, bei den letzten Parlamentswahlen, errang Ukip lediglich 3,1 Prozent der Stimmen, was nicht einmal einen Abgeordneten ergab. Damit lag Ukip hinter Kleinstparteien wie den britischen Grünen, der irischen Sinn Féin oder der walisischen Unabhängigkeitspartei Plaid Cymru, die alle mindestens einen Abgeordneten stellen konnten.

Doch inzwischen ist aus einem Lüftchen, das in Richtung Ukip bläst, ein frischer Wind geworden. Bei den Wahlen zum Europaparlament im vergangenen Jahr gewann Ukip erstaunliche 27,5 Prozent und war auf einen Schlag zu einer Kraft geworden, mit der insbesondere die Konservativen zu rechnen haben. Aktuell prognostizieren Meinungsforscher, daß Ukip im Mai knapp über 15 Prozent der Stimmen holen wird, was zehn bis zwölf Abgeordnete ergäbe.

Diese Stimmen würden mit hoher Wahrscheinlichkeit von den Konservativen kommen und David Cameron die Wiederwahl kosten. In diesem Fall würden vermutlich Labour und die Liberal Democrats eine Koalition bilden, wobei der neue Premierminister Ed Miliband hieße. Der Grund für diese Koalition, die kaum ein Wähler wollte – sind doch die Liberal Democrats landauf, landab ebenso unbeliebt wie in Deutschland die FDP, läge darin, daß David Cameron niemals mit Ukip eine Koalition eingehen würde, von der er sich bedroht und gehetzt fühlt.

Aus heutiger Sicht ergibt sich deshalb dieses merkwürdige Fazit: Ein grandioser Erfolg von Ukip würde den Tories die Wahl kosten und eine Mitte-Links-Regierung unter einem protomarxistischen Regierungschef Miliband an die Macht spülen, den zu Hause kaum einer mag, der den Regierungschefs der übrigen EU-Länder jedoch höchst sympathisch wäre, weil sie mit ihm machen könnten, was sie wollten.

Ein mittelmäßiges Abschneiden von Ukip würde einen geschwächten David Cameron eventuell im Amt lassen, Nigel Farage aber die Chance geben, die Regierung permanent mit Kritik an Euro, EU und der von der Regierung zwar beschlossenen, aber nie umgesetzten Immigrantenquote zu überziehen. Das stärkste Druckmittel für Farage wäre dabei das Damoklesschwert der Abwanderung unzufriedener konservativer Hinterbänkler zu Ukip.

Wie erfolgreich Farage diesen Druck mit seinen heute noch begrenzten Kräften aufzubauen versteht, sieht man daran, daß David Cameron die für 2017 versprochene Volksabstimmung darüber, ob Großbritannien in der EU bleiben soll oder nicht, vorziehen will.

Der Druck, den die Konservativen von Ukip spüren, ist bereits heute so stark, daß der Economist kürzlich „David Cameron’s effort to outgun Ukip on immigration“ (Camerons Bemühungen, Ukip in puncto Immigration noch zu übertreffen) nur noch – ebenso hilflos wie angeekelt – konstatieren konnte. Deshalb wäre aus konservativer Sicht eine Tory-Regierung, die sich von einer starken, aber nicht unbedingt dominanten Ukip einige wichtige Themen vorschreiben lassen müßte, wahrscheinlich das wünschenswerteste Resultat dieser wichtigen Wahl.

Die seit Jahren zunehmende Kritik der Briten an der EU bedeutet jedoch nicht, daß sie sich in einer Abstimmung über den Verbleib in der EU mit breiter Mehrheit dagegen aussprächen. Genau wie das Referendum über den Verbleib von Schottland im Vereinigten Königreich fiele auch diese Abstimmung wohl knapp aus, trotzdem würde die Mehrheit der Briten für einen Verbleib in der EU votieren.

Aus deutscher Sicht ist dies im Endeffekt auch ganz gut, denn die Briten sind ein kühles, rationales Volk, ein verläßlicher Partner und inzwischen auch wieder eine starke Wirtschaftsmacht. Ohne sie wären die Schulden der Südländer auf immer weniger starke Schultern und hauptsächlich auf die Deutschlands verteilt. Das kann keiner wünschen.

 

„Brexit“

Das Kunstwort – zusammengezogen aus „Britain“ und „Exit“ – bezeichnet einen möglichen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU). Das Szenario wäre nach Artikel 50 des Vertrags von Lissabon möglich: „Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.“ Vor zwei Jahren, im Januar 2013, hatte der britische Premier Cameron in einer europapolitischen Grundsatzrede verkündet, es werde – sollte er 2015 wiedergewählt werden – bis spätestens Ende 2017 ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft geben. Dies hatte es 1975 (nur zwei Jahre nach dem Beitritt des Königreiches zur Europäischen Gemeinschaft) schon einmal gegeben. Damals stimmten mehr als 17 Millionen Briten (67,2 Prozent) für den Verbleib in der EG, 8,4 Millionen dagegen (32,8 Prozent). Margaret Thatcher, frisch gekürte Tory-Chefin, war zu der Zeit auch noch dafür, später hätte sie dies am liebsten ungeschehen gemacht. In der Gründungsphase der EG (damals noch EWG) hatte sich das Königreich unter Verweis auf seine „ozeanische“ Ausrichtung und eigenständige Tradition vom Kontinent eher ferngehalten.

Foto: Verfremdeter Union Jack: Bei der Wahl im Frühjahr entscheiden die Briten auch darüber, ob sie noch eine weitere Wahl haben – nämlich für oder gegen die EU aber kein Grund zur Sorge: „Ich werde mich nicht ändern.“

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