© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/15 / 09. Januar 2015

Familie im Staat
Was wir den Kindern vorleben
Heiko Urbanzyk

Am 1. Januar 2015 trat das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf in Kraft. Ähnlich der Elternzeit sollen Berufstätige, die einen nahen Angehörigen pflegen, künftig eine 24monatige Familienpflegezeit mit reduzierter Wochenstundenzahl in Anspruch nehmen können. Doch in 90 Prozent aller Betriebe, namentlich den Kleinbetrieben unter 25 Mitarbeitern, beziehungsweise für mehr als sieben Millionen Beschäftigte wird es diese Möglichkeit nicht geben. Schade! Es wäre einen dringend nötigen Versuch wert gewesen, wie viele Arbeitnehmer nach dem Wegfall beruflicher Zwänge zum Beispiel ihre Eltern zu Hause pflegen würden, anstatt sie ins Pflegeheim zu geben.

Der deutsche Pflegealltag kennt zwei Seiten: Einerseits werden viele Alte von Angehörigen daheim gepflegt. Andererseits wollen zahlreiche Kinder für ihre pflegebedürftigen Eltern keinen Finger krumm machen und erst recht nichts für die Unterbringung im Heim zahlen – was letztlich die Sozialkassen belastet. In letzteren Fällen verordnen Gerichte die Familiensolidarität zwangsweise. Wenn es um die Schonung öffentlicher Finanzmittel geht, ist ein konservatives Familienbild sogar in diesem Staat noch zu gebrauchen.

Am 12. Februar vergangenen Jahres hatte der Bundesgerichtshof (BGH) darüber zu urteilen, ob ein Sohn seinem Vater Elternunterhalt schulde, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits seit 1972, also seit 42 Jahren, kein Kontakt mehr bestand. Der Vater hatte den Kontakt zum Sohn selbst abgebrochen, nachdem er sich von dessen Mutter getrennt hatte. Annäherungsversuche wies er zurück. Der Sohn sollte, soweit es ging, enterbt werden. Sachartikel und Kommentarspalten fällten das Urteil schon Tage vorher: „Das kann ja wohl nicht sein!“ Dem Urteil folgte eine Presseberichterstattung, die zuvorderst darauf bedacht war, Kindern, die tatsächlich dumm genug waren, durch Eltern gezeugt worden zu sein, zu erklären, was an Unterhalt für die Eltern auf sie zukommen werde. Immerhin vergaß man dabei in einigen Berichten nicht, kurz zu erwähnen, daß der Vater sich die ersten 18 Lebensjahre um seinen Sohn gekümmert hatte. Eine Lebensphase, in der „regelmäßig besonders intensive elterliche Fürsorge erforderlich ist“, wie der BGH betont.

Weit weniger Aufsehen erregte am 26. März ein Nichtannahmebeschluß zu einer Verfassungsbeschwerde durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Das BVerfG sah es als rechtmäßig an, daß der Gesetzgeber Kindern für die Pflege ihrer Eltern durch die gesetzliche Pflegeversicherung weniger Geld auszahlt als einem gewerblichen Pflegedienst, der dieselbe Arbeit verrichtet.

Der Unterhaltsanspruch in Not geratener Eltern hat seine Wurzeln in der familiären Solidarität und Verantwortung. Der Gesetzgeber beabsichtigte mit seiner Konzeption, daß diese in einem Mehrgenerationenverhältnis lebenslang Geltung behalten.

Das BVerfG führte dazu aus: „Die – auch die Pflege umfassende – gegenseitige Beistandspflicht von Ehegatten untereinander sowie zwischen Eltern und Kindern ist nicht nur eine sittliche Pflicht, sondern durch Paragraphen 1353, 1618a BGB auch als rechtliche Pflicht ausgestaltet.“ Dies rechtfertige es, daß diese Verpflichtung nur unterstützende Pflegegeld in vergleichsweise niedriger Höhe zu gewähren. Und weiter: „Der Gesetzgeber darf die Förderung des familiären Zusammenhalts auch dadurch verwirklichen, daß er den Pflegebedürftigen die Wahl zwischen den verschiedenen Formen der Pflege läßt, und wegen der besonderen Pflichtenbindung von Familienangehörigen das Pflegegeld lediglich als materielle Anerkennung vorsieht.“

Der Unterhaltsanspruch in Not geratener Eltern aus Paragraphen 1601, 1618a BGB hat seine Wurzeln in der familiären Solidarität und Verantwortung. Der Gesetzgeber beabsichtigte mit seiner Konzeption, daß diese in einem Mehrgenerationenverhältnis lebenslang Geltung behalten. Sowohl den Kindern als auch den Eltern soll es verwehrt sein, sich dieser Solidarität und Verantwortung zu entziehen, auch wenn die Qualität der familiären Bande zu wünschen übrigläßt.

Klingt gemein, ist aber juristisch und ethisch korrekt. Oder wer würde umgekehrt verlangen, der Staat habe sämtliche Kosten für das Großziehen von Kindern anderer Leute zu übernehmen? Warum sollen wir höhere Abgaben für das Pflegesystem und die Sozialkassen leisten, nur weil unser Nachbar seine demenzerkrankte Mutter ins Heim steckt, deren Rente nicht reicht und der Staat einspringen muß, damit die arme Frau nicht auf der Straße landet? Unser Nachbar hat jedenfalls nichts auf einer dreimonatigen Luxusweltreise verloren, während wir daheim für seine Mutter den Lebensunterhalt erarbeiten. Wenn er nach Abzug des Elternunterhalts seine Weltreise noch bestreiten kann, dann bitte schön!

Der Elternunterhalt war bis vor wenigen Jahren kaum ein Thema. Ganz im Gegensatz zum Kindes- oder Trennungsunterhalt. Aber das Thema ist im Kommen. Es spiegelt die gesellschaftliche Akzeptanz der Familie wider, die heute noch jenseits von Ich-Bedürfnissen besteht. Die „Auslagerung“ alter Menschen in Fremdbetreuung ist kein Tabuthema mehr. Wer seine Eltern für den Rest ihres Lebens „ins Heim steckt“, hat weniger Kritik zu befürchten, als wenn er seine Kinder in Ganztagsbetreuung gibt. „Gute Gründe“ von A wie Arbeitsbelastung, über I wie Inkontinenz, bis Z wie Zumutung findet man immer. Das muß jeder selbst mit sich moralisch vereinbaren, das geht niemanden außerhalb der Familie etwas an. Aber wer die Entscheidung trifft, muß selbst zahlen – ganz einfach.

Nach Angaben des Deutschen Städtetages mußten Städte und Gemeinden im Jahr 2013 über die Sozialhilfe mit 3,7 Milliarden Euro für die Pflegekosten alter Menschen aufkommen, deren Rente nicht reichte oder bei deren Kindern wirklich nichts zu holen ist. Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen deutlich, daß die Viermilliardengrenze für diese Ausgaben nicht mehr allzu weit entfernt ist: Derzeit sind es noch etwa 2,6 Millionen Pflegebedürftige, bis 2020 wird sich die Zahl auf etwa drei Millionen steigern.

Es ist mitnichten so, daß sich Kinder nur gegen den Unterhaltsanspruch ihrer Eltern wehren, weil die Familienverhältnisse zerrüttet sind. Wer genug Urteile dazu liest, wird feststellen, daß es sehr oft um ganz normale Familienverhältnisse geht. Man liebt seine Eltern, hat sie aber aus einem der vielen „guten Gründe“ „weggegeben“. Aus irgendeinem merkwürdigen Grund meinen diese Kinder nun – wie es der Fürsorgestaat ihnen anerzogen hat –, daß sie für den Lebensunterhalt ihrer Eltern nicht mehr zu sorgen haben. Ein Pflegeheimplatz kostet im Bundesdurchschnitt 3.300 Euro pro Monat. Da hört die Familiensolidarität bei vielen auf, und die Steuerzahlersolidarität soll’s richten. Das fällt um so leichter, wenn „die Alten“ bereits im Heim verstorben sind und Vater Staat erst danach die anteilige Rückzahlung der Unterbringungskosten verlangt. Da hört jedes Verständnis für Familie auf.

Es lassen sich Gründe finden, warum die Deutschen heute so denken und von Gerichten an ihre Familiensolidarität erinnert werden müssen. Da wäre der Zeitgeist. Familie stört, wo sie den Ich-Bedürfnissen im Weg steht: Freizeit, Karriere – Unterhalt.

Wehe dem, dem der Staat erst einen Bescheid zuschicken muß. Der wird noch lernen, was er so alles abknapsen kann, was er zuviel hat und wie wenig er doch eigentlich zum Leben braucht. Das hört niemand gerne. Hat sich der 50jährige Dachdecker wirklich jemals darüber Gedanken gemacht, daß sein bescheidenes Eigenheim plötzlich 50 Quadratmeter zu groß sein soll? Daß ein Teil seines „Notgroschens“ außerdem für die Not seines Erzeugers ausreicht und deshalb genug Geld für Papas Pflegeheim drin sein muß?

Wer bis zu diesem Kostenbescheid, ja bis zu seinem Unterhaltsrechtsstreit gegen die Eltern oder die Behörde noch ein tolles Verhältnis zu seinen Geschwistern hatte, der kann auch das bald abhaken. Denn selbstverständlich wird die Behörde auch bei denen anfragen, oder der Herangezogene wird höchstpersönlich auf sie zeigen. Die Schwester, die es wagte, vor zehn Jahren ihrer großen Liebe nach Italien hinterherzuziehen, wird fortan und auf ewig gehaßt. Denn auf sie kann die Behörde nicht zugreifen, und hat sie noch soviel Geld. Menschliches, allzu Menschliches!

Es lassen sich selbstverständlich Gründe finden, warum die Deutschen heute so denken und von Gerichten an ihre Familiensolidarität erinnert werden müssen. Da wäre der Zeitgeist. Familie stört, wo sie den Ich-Bedürfnissen im Weg steht: Freizeit, Karriere – Unterhalt. Kinder und Greise stehen als Schwächste eher im Wege als ein Hund. Man kann sich gegen Kinder entscheiden. Aber Eltern hat jeder von uns.

Der Staat alimentiert außerdem ein Millionenheer von Arbeitslosen. Kennt nicht jeder von uns einen davon, der tatsächlich gar nicht mehr arbeiten möchte, weil die „Stütze“ kaum niedriger ist als so mancher Lohn?

Dann sind da Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak. Sollen ruhig kommen, sagt die Bundesregierung: wenn sie von ihren eigenen, bereits in Deutschland lebenden Familien aufgenommen werden. „Unmenschlich!“ schrien da sofort links-grüne Oppositionelle. Familiensolidarität als Unmenschlichkeit? Dann verstoßen die Paragraphen 1601, 1618a BGB gegen das Grundgesetz. Es sei denn, man legt sie grundgesetzkonform dahingehend aus, daß nur Deutsche vom Staat zur Familiensolidarität gezwungen respektive: daran erinnert werden dürfen. Welches Verständnis von Familiensolidarität soll in einem solchen Land gedeihen?

Unter jungen Familien ist es keine Schande mehr, zu sagen, daß sich die Eltern angesichts klammer Rentenkassen erhoffen, ihre Kinder werden es richten. Nur dumm, wenn gerade diese Kinder vorgelebt bekommen, daß es immer „gute Gründe“ gibt, Oma doch ins Heim zu geben.

Der bereits genannte Beispiel-Dachdecker könnte übrigens den Teil seines Hauses, den die Behörde für „zu groß“ hält, als Altenteil seinem Papa vermieten. Das wäre trotz Hilfe vom Pflegedienst allemal billiger und solidarischer als das Pflegeheim, ersparte Ämterlaufereien und zeigte den Kindern, was Familie wert ist – und daß es dafür weder eines BGH noch eines BVerfG, noch eines BGB bedarf.

 

Heiko Urbanzyk, Jahrgang 1979, arbeitet als Jurist und freier Autor im Ruhrgebiet. Seine journalistische Arbeit behandelt insbesondere Themen des Umwelt- und Naturschutzes. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Verhandlungen zum Transatlantischen Freihandelsabkommen („Bloß nicht auf den Leim gehen“, JF 21/14).

Foto: Alte Eltern und junge Hilfe: Bei den Kosten für einen Pflegeheimplatz hört die Familiensolidarität bei vielen auf. Dann soll plötzlich die Gemeinschaft aller Versicherten einspringen

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