© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/15 / 16. Januar 2015

Ewig im Visier der Ideologen
Der Historiker Paul Ginsborg über die Familie in den totalitären Systemen im zwanzigsten Jahrhundert
Harald Seubert

Die Rückwirkungen des Zeitalters der Extreme auf die Familie sind bislang in keiner großen vergleichenden Querschnittsuntersuchung behandelt worden. Dies leistet Paul Ginsborg, Professor für Neuere Europäische Geschichte in Florenz, in einem insgesamt beeindruckenden Wurf.

Vielversprechend ist bereits seine mehrperspektivische Vorgehensweise: Ginsborg fokussiert sich in jedem System auf eine herausragende Person und deren familiäre Umstände, er flankiert dies durch Rekonstruktionen zur Geschichte durchschnittlicher Familien, bei denen er sich auch der „Oral History“ bedient. Ergänzt wird dieser Ansatz durch sozialgeschichtliche Perspektiven. Politische und ideologische Komponenten der Familienplanung und Gesetzestexte werden differenziert berücksichtigt.

Das Buch beginnt und es endet mit Rußland: Als exemplarische Persönlichkeit auf dem Weg zur Oktoberrevolution wählt Ginsborg die Frauenrechtlerin und Kommunistin Alexandra Kollontai, die darin originell ist, daß sie eine veränderte Erotik zwischen Mann und Frau unter den Auspizien der Gleichberechtigung als höchstes Ziel verfolgte. Eindrucksvoll wird das Elend von Bauernfamilien im zaristischen Rußland mit dem Reformgesetz von 1925/26 konfrontiert. Die Ideologie zielte mittelfristig aber auf Abschaffung der Familie, in der Trotzki eines der schwierigsten und wichtigsten Ziele des Bolschewismus sah. Die Realitäten nach der Revolution waren indes von Obdachlosigkeit, Prostitution und Elend gekennzeichnet.

Das Ziel, die Familie in den Staat zu absorbieren

Das zweite Kapitel widmet sich dem Wandel des Familienbildes in der osmanischen Gesellschaft: Atatürks Reform brach mit dem islamischen Familienverständnis, setzte an seine Stelle aber ein neues institutionalisiertes Patriarchat. Auch hier begnügt sich die Darstellung nicht mit der Theorie. Sie macht auch den Völkermord an den Armeniern und die Härte der Reformen deutlich, die den Lebensgewohnheiten zumal der anatolischen Landbevölkerung diametral entgegengesetzt waren. Atatürk, der in realistischer Selbsteinschätzung sagte, daß die Ehe nicht für ihn gemacht sei, zielte aber nicht auf die Auflösung der Familien, sondern ihre Stabilisierung im Dienst der Republik.

Die Familienpolitik des Faschismus in Italien setzte mit Giovanni Gentiles Anspruch an, die Familie in den Staat zu absorbieren. Konkret kontrastiert Ginsborg die von Tyrannei nicht freie faschistische Familie Mussolini mit Marinettis Erfahrung von Liebes- und Familienglück, das den bellizistischen Dikta des Futuristen erstaunlich widerspricht. Mit viel Belegmaterial wird gezeigt, daß die Programme zur Geburtensteigerung und Familienplanung eher wirkungslos blieben. Auch die finanziellen Förderprogramme waren halbherzig und versickerten entsprechend. Dem formierten Familienbegriff der Faschisten kontrastierte der Integralismus der Kirche: Die meisten Paare heirateten auch im Faschismus kirchlich. Die Zivilehe wurde als Appendix in der Sakristei angeschlossen.

Im nächsten Kapitel werden zunächst die Reformen der spanischen Republik, die Frauenrechte und die erleichterten Optionen der Scheidung mit dem traditionellen katholischen Familienbild konfrontiert. Francos Diktum „Nur die Familie und die Kirche“ war eine Achse der Macht des uncharismatischen „Caudillo“. Die Republikaner im Bürgerkrieg zielten, wie Ginsborg zeigt, allerdings keineswegs nach sowjetischem Vorbild auf Auflösung der Ehe. Federico Garcia Lorcas Straßentheater diente gerade der Vermittlung kastilischer Traditionen: ein bemerkenswerter Gleichklang, den Francos Propaganda und die Zerspaltungen des Bürgerkriegs überdeckten. Leid und Hunger mußten allerdings die „besiegten Familien“ erdulden – auch diese Hinterlassenschaft des Franco-Regimes weiß Ginsborg differenziert zu berichten.

In der Darstellung der deutschen Familienpolitik im Nationalsozialismus greift Ginsborg zunächst zum naheliegenden Paradigma: Goebbels als Familienvater wird Hitler, dem selbstinszenierten „einsamen Wolf“ gegenübergestellt. Ein Spektrum an Quellen von Familienbriefen aus dem Haus Goebbels bis zu Tagebuchzitaten Victor Klemperers erlaubt eine differenzierte Erfassung der Lebensrealitäten.

Bemerkenswert distanziert unterzieht Ginsborg die Diagnose der Frankfurter Schule, wonach die Familie ein Unterdrückungsmechanismus sei und zur Ausbildung der „autoritären Persönlichkeit“ beigetragen habe, der Überprüfung. Daß er Klaus Theweleits 1977/78 erschienenes Buch „Männerphantasien“ Explikationskraft zuweist, befremdet. Eindrucksvoll ist das Kapitel nicht zuletzt durch die glänzend erzählten, zugleich durch Statistiken belegten Umstände des Familienlebens in der Weimarer Republik: die große Zahl von Fürsorgeempfängern, Proletarisierungen und schwierige Hygieneverhältnisse in den Großstädten, in denen sich manche Familien in Wohnungen Haustiere hielten, um autark zu sein; dieses Faktorenbündel explodierte in der Weltwirtschaftskrise. Die theoretischen Debatten über Wohlfahrt waren Makulatur geworden.

Die nationalsozialistische Ideologie setzte dann auf die Familie als „kleine Welt“, die aber durchgehend gelenkt und mit der großen Welt der „Bewegung“ verschränkt wurde. Kontrolle und Mobilisierung zeigen sich darin, daß Kinder durch HJ und BDM den Einflüssen der Familie weitgehend entzogen wurden. Umgekehrt wird die Familie in Film und Propaganda überidealisiert. Eine gezielte „proarische“ Wohlfahrt war bekanntlich die Kehrseite der NS-Rassenpolitik. Ginsborg verweist darauf, daß der hohe Modernisierungsgrad in Deutschland Propaganda und Kontrollmaßnahmen begünstigte. Er verschweigt aber nicht, daß dennoch, zumindest bis zum Kriegsbeginn, ein „nicht unbeträchtlicher Individualismus im Alltag“ möglich war. Deshalb zögert er sogar im Blick auf den Nationalsozialismus, von einer „totalitären“ Familienstruktur zu sprechen. Darüber wird die Forschung weiter diskutieren.

Mit Rußland schließt sich der Bogen: Alexandra Kollontai war, um so überleben zu können, wie sie es sich wünschte, zur strammen Stalinistin geworden. Das Stalinsche Familiengesetz von 1944 verband Sozialpolitik mit unbedingter Kontrolle. Säuberungen und Großer Vaterländischer Krieg rissen die politisch entmachtete Familie auch äußerlich in den Orkus.

Ginsborg hat ein umfassendes Werk vorgelegt, das man gleichermaßen wegen seiner vorzüglichen statistischen Anhänge und Graphiken wie auch wegen seiner plastisch einfachen Erzählweise als Standardwerk schätzen wird. Subtil werden vergleichende Linien zwischen den Systemen gezogen. Eine einfache Lehre kann man diesem Buch nicht entnehmen. Der Verfasser hegt eine gewisse Sympathie für Reformen und Modernisierungen in familienrechtlichen Zusammenhängen, zeigt aber auch, wohin eine politische Funktionalisierung der Familie führte. Diese Warnung dürfte hochaktuell bleiben.

 

Prof. Dr. Harald Seubert bekleidet eine Professur für Philosophie und Religionswissenschaft an der STH Basel. Daneben lehrt er an der Hochschule für Politik in München.

Paul Ginsborg: Die geführte Familie. Das Private in Revolution und Diktatur 1900–1950. Hoffmann und Campe, Hamburg 2014, gebunden, 752 Seiten, 38 Euro

Foto: Adolf Wissel, Kalenberger Bauernfamilie, Öl auf Leinwand, 1939: Die Familie als „kleine Welt“, die aber durchgehend gelenkt und mit der großen Welt der „Bewegung“ verschränkt wurde

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