© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/15 / 16. Januar 2015

Die Melancholie sitzt im limbischen Hirnrindenbereich
Ein Plädoyer für die Unentbehrlichkeit der Neurobiologie in der Psychotherapie
Andreas Henke

Im Unterschied zu einem Stein sind Pflanze, Tier und Mensch Lebewesen. Was deren „Leben“ ausmacht, ist allerdings unter abendländischen Denkern seit 2.500 Jahren heftig umstritten. Einig war man sich seit den Tagen der Vorsokratiker im großen und ganzen lediglich darin, daß alle Lebewesen im Vergleich mit toten Dingen durch eine geheimnisvolle Kraft, eine unstoffliche „Seele“ ausgezeichnet seien.

Wo aber hat die Seele im menschlichen Körper ihren Sitz? Sofern Seele mit Geist identifiziert wurde, verortete schon Platon sie im Gehirn, während Aristoteles sie im Herzen lokalisierte. Erst im 19. Jahrhundert beendeten verbesserte neuroanatomische Methoden und Fortschritte der Elektrophysiologie alle Spekulationen mit dem Nachweis, daß psychische, geistige wie emotionale Zustände, auf Prozessen in der grauen, zellhaltigen Substanz des Gehirns beruhen. Exakte Beschreibungen des Baus von Nervenzellen (Neuronen) lagen um 1850 vor.

„Gewisse Autonomie geistiger Prozesse“

Zwei Forschergenerationen später, nachdem die einzelnen Neuronenbestandteile erkannt worden waren, verfügte man über ein grobes Schema der Informationsverarbeitung zwischen einzelnen Nervenzellen. Es dauerte dann jedoch bis in die 1980er Jahre, bis es gelang, die Details der chemo-elektrischen Erregungsverarbeitung zwischen Neuronen zu erfassen und bis zu den molekularen Grundlagen des Lernens und der Gedächtnisbildung vorzustoßen.

Wie Gerhard Roth, Deutschlands bekanntester Hirnforscher, in seinem jüngsten, mit Nicole Strüber verfaßten Buch zum Thema „Wie das Gehirn die Seele macht“ selbstsicher resümiert, unterliege es heute keinem Zweifel mehr, daß dem bewußten menschlichen Erleben von Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen unbewußte neuronale Prozesse zugrunde liegen, „die in einem gut meßbaren Rahmen von einigen hundert Millisekunden zeitlich vorgehen“ und deren spezifischer Ablauf auch die Inhalte des Bewußtseins bestimme. Was immer noch als Seele begriffen werde, Geist und Bewußtsein, sei damit unlösbar an neuronale, also materielle Bedingungen gebunden.

Mit derart dezidierten Aussagen sehen sich Hirnforscher ungeachtet der enormen Erkenntniszuwächse gerade in den letzten 20 Jahren weiterhin dem Vorwurf des „materialistischen Reduktionismus“ ausgesetzt. Zumal Verteidiger des dualistischen Weltbildes, für die Natur und Geist unterschiedliche „Wesenheiten“ sind, ihren Paradeeinwand nicht widerlegt sehen: Den Nachweis einer „Kausalität“ zwischen neurochemischer Kommunikation von Nervenzellen und der Konstitution von Bewußtsein sei die Hirnforschung bisher schuldig geblieben.

Roth und Strüber, die eine „gewisse Autonomie geistiger Prozesse“ konzedieren, räumen diese „fundamentale Erklärungslücke“ freimütig ein, glauben aber, daß sie von ihrer Disziplin langfristig geschlossen werde. Denn die biologischen Wurzeln mentaler Prozesse, das physikalisch-physiologische Substrat von Bewußtsein, wie es das EEG mit den sich selbst organisierenden elektromagnetischen Feldern aufzeichnet, sei prinzipiell naturwissenschaftlicher Empirie zugänglich.

Ihr Werk präsentieren die beiden Bremer Neurobiologen indes nicht als weiteren Beitrag zum Disput, den „Idealisten“ und „Materialisten“ über das Selbstverständnis des Menschen führen. Vielmehr wollen die Autoren einerseits elementare Kenntnisse über den Bau des Gehirns, die „Sprache der Seele“, wie sie Neuromodulatoren, Neuropeptide und Neurohormone artikulieren, die Hirnentwicklung und die neurobiologischen Grundlagen der Persönlichkeit vermitteln.

Was sie darüber aus der Forschung mitteilen, ist zwar überaus anspruchsvoll und überschreitet sicher das Niveau von „Abiturwissen Biologie“. Aber trotzdem sind ihre didaktisch vorzüglich aufbereiteten und durch viele Schaubilder unterstützten Ausführungen auch dem naturwissenschaftlichen Laien zugänglich, so daß niemandem Hindernisse auf dem Weg zum Erwerb solider Allgemeinbildung, die auch das Einmaleins der Hirnforschung umfassen sollte, entgegenstehen.

Den Ursachen psychischer Erkrankungen auf der Spur

Andererseits legen Roth und Strüber einen zweiten Schwerpunkt auf die Erörterung der Konsequenzen neurowissenschaftlicher Theorien für die Behandlung psychischer Erkrankungen. Steht die Bedeutung hirnphysiologischer Forschung für die Diagnostik von Alzheimer oder Parkinson außer Frage, werden andere seelische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, posttraumatische Belastungs-, Zwangs- und Persönlichkeitsstörungen sowie antisoziale Verhaltensstörungen weiterhin isoliert von ihren neurobiologischen Determinanten therapiert. Immer noch stünden zu viele Psychologen und Psychotherapeuten in einer geisteswissenschaftlichen Tradition, die auf „verstehend-interpretierende“ Verfahren vertraue. Sie orientierten sich lieber an Jürgen Habermas’ Lehre vom „kommunikativen Handeln“ als an der „kalten“ naturwissenschaftlichen Diagnostik und an empirisch fundierten und standardisierten Vorgehensweisen nach dem Motto „Verstehen statt Erklären“.

Trotzdem hätten Psychotherapeuten seit langem kaum Berührungsängste gegenüber der gleichfalls „kalten“, zumindest aber zur Unterstützung gern verordneten pharmakologischen Behandlung ihrer Patienten. Das Wissen um gut erforschte Korrelationen etwa zwischen Depressionen und Änderungen in Hirnstrukturen sowie Einsichten in die neurobiologisch ermöglichte Differenzierung verschiedener Unterarten von Depressionen gehörten indes noch nicht zum alltäglichen psychotherapeutischen Handwerkszeug. Daher könne Patienten, die an einer melancholischen Depression litten, mit herkömmlicher Gesprächstherapie nicht geholfen werden, wenn man nicht wisse, daß ihre Krankheit in einer Überfunktion der limbischen Hirnrindenbereiche gründe.

Überhaupt seien Defizite in der Produktion neurochemischer Stoffe wie Oxytocin, Vasopressin und Dopamin Grundlage aller psychischen Erkrankungen. Verschiedene Erkrankungen würden dabei von unterschiedlichen Fehlregulationen begleitet. Bei Depressionen seien dies häufig Fehlregulationen des Cortisol-, Serotonin- und des Oxytocinsystems, die zu Defiziten bei der Neubildung von Nervenzellen und in der Beeinflussung des Zusammenspiels limbischer Hirnstrukturen führten. Fehlentwicklungen kindlicher Streßverarbeitung könnten auf schweren vorgeburtlichen Erfahrungen der werdenden Mutter basieren, wie Mißhandlungen oder Vergewaltigungen, die Veränderungen in ihrem neuromodulatorischen System bewirken könnten.

Mit ihrem Plädoyer für eine neurobiologische Neuorientierung wollen Roth und Strüber die Psychotherapie nicht „ersetzen“. Aber ihre Unentbehrlichkeit als „dienende Wissenschaft zur Aufklärung der Ursachen psychischer Erkrankungen“ sollten Psychologen endlich akzeptieren.

Gerhard Roth/Nicole Strüber: Wie das Gehirn die Seele macht. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2014, geb., 425 Seiten mit ca. 40 Abbildungen, 22,95 Euro

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