© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/15 / 23. Januar 2015

Von ihm ging Zuversicht aus
Der Bote von Wandsbeck: Vor zweihundert Jahren starb der volkstümliche Journalist und „Abendlied“-Dichter Matthias Claudius
Sebastian Hennig

Die goldene Zeit der deutschen Dichtung im 18. Jahrhundert hat auch dem hohen Norden einiges zu verdanken. Von dort her haben Friedrich Klopstock, Johann Heinrich Voß, die Grafen Stolberg, Fritz Jacobi und nicht zuletzt Lessing, während seiner Wirksamkeit am Hamburger Nationaltheater, weit in den deutschen Sprachraum hineingewirkt. Gleichmütig und fest inmitten der Auseinandersetzungen um Welt- und Kunstanschauung steht vor Ort über Jahrzehnte Matthias Claudius.

Er ist schon durch die Herkunft am innigsten mit der Gegend verbunden. Am 15. August 1740 wurde er in Reinfeld/Holstein in eine traditionsreiche Pastorenfamilie hineingeboren. Drei seiner Söhne werden später ebenfalls das Pfarramt ausüben. Von ihm selbst gelangen mehrere Gedichte ins evangelische Kirchengesangbuch. Dennoch wechselt der Student in Jena bald von der Theologie ins juristische Fach. Er liest Shakespeare im Original und beschäftigt sich mit Spinoza. Nur ein Jahr ist er als Sekretär beim Grafen Holstein in Kopenhagen angestellt. Dem feurigen Verfechter der Ergebenheit in die Ratschlüsse des Allmächtigen mangelt es an Subordination gegen die weltlichen Vorgesetzten. Anschließend berichtet er als Redakteur der Hamburger Addreß-Comtoir-Nachrichten über profane Börsennotierungen und Schiffseingänge.

Der nächste Schritt entscheidet sein Leben. Als einziger Redakteur wird er für den Inhalt des Wandsbecker Bothen verantwortlich. Von 1771 bis 1775 erscheint der Bothe viermal in der Woche. Wandsbeck ist damals nichts weiter als ein Gutsflecken im Besitz des dänischen Finanzministers Schimmelmann. Die Vorgängerzeitschrift Wandsbecker Mercurius wußte sich beim Publikum beliebt zu machen mit Indiskretionen über die Hamburger Bürgerschaft. Deren Ersuchen bei den dänischen Behörden führte schließlich zum Verbot.

Claudius als neuer Redakteur mußte sich darum einer Vorzensur beugen. Mit anderen Mitteln ist er gleichfalls bestrebt volkstümlich zu schreiben. Derben Naturalismus verbindet er mit zarten Tönen. Kräftige Ermahnungen sind von lyrischen Wendungen begleitet. Seine Fähigkeit, geistreich und doch eingängig zu schreiben, ließ Claudius zum Vernehmlichsten unter den Stillen im Land werden. Selbst ein anspruchsvoller rationaler Kopf wie Georg Christoph Lichtenberg empfiehlt die Lektüre des Wandsbecker Bothen.

Sein Zeitungsposten ernährt ihn nur mangelhaft

„Ich bin ein Bothe und nichts mehr. Was man mir gibt, das bring ich her“, beginnt das Neujahrsgedicht der ersten Ausgabe von 1771. Claudius erhebt keinen Anspruch auf Merkurs Flügelstab. Dem einfachen zeitgenössischen Botengewand gibt er den Vorzug vor dem antikisierenden Mummenschanz. Heute noch befinden sich Tasche, Hut und Stock des Boten im Wappen des Hamburger Bezirks Wandsbek.

Das Titelblatt der Zeitung zeigt, nach seinem eigenen Einfall, eine Eule, die oben auf dem Hut sitzt, während auf der Krempe, achtsam-ängstlich ihre Kunde erwartend, sich drei Frösche ducken. Als der Herausgeber Bode einen Deutschen Boten aus dem Blatt machen will, besteht Claudius auf den Wandsbeckischen. Über die Zeitung gelingt Claudius der Eintritt in die literarische Welt. Er vermag bedeutende Autoren heranzuziehen und zu seinen Freunden zu machen und Freunde zur Autorschaft für das Blatt zu gewinnen. Der Name seiner Zeitung wird zum Synonym für den Dichter Claudius. Als diese längst schon eingestellt ist, veröffentlicht er im Göttinger Musenalmanach als Wandsbecker Bote, Asmus oder unter anderen Masken seiner Redakteurszeit.

1772 heiratet er die siebzehnjährige Zimmermannstochter Anna Rebekka Behn, mit der er ein dutzend Kinder zeugt. Sein Posten ernährt ihn zunächst nur mangelhaft. Mehr als vierhundert Exemplare werden pro Auflage nicht verkauft. Andere Zeitungen setzen in jener Zeit bereits ein Vielfaches dessen ab. Nach der Einstellung der Zeitung verkündet Christian Friedrich Daniel Schubart in seiner Teutschen Chronik den Auszehrungstod des Boten: „S war ’n ehrlicher Kerl, lief durch Wind und Wetter, ’durch Staubwolken und Schneegestöber.“ Da aber das gebildete Deutschland inzwischen wußte, wer dahinterstand und Claudius als den Boten kannte, war Schubart genötigt, daß er mitnichten das Ende des „herzigen, launhaften Claudius“ gemeint habe. Der wird 1777 noch einige Monate für die Hessen-Darmstädtische privilegirte Land-Zeitung tätig, danach ist die Zeitungsepoche für ihn abgeschlossen. Den bescheidenen Haushalt des kinderreichen deutschen Dichters rettet 1785 der Ehrensold des dänischen Prinzen Friedrich.

Der Literaturhistoriker Josef Nadler wertet Claudius als „geistigen Leuchtturm“ für jene, die aus der abstrakten Verstandeswelt nach einer weltzugewandten Frömmigkeit strebten: „Mat-thias Claudius in seiner stillen Gläubigkeit war wieder der erste Kern, an den sich aus nah und fern anschloß, was aus dem Glauben und der Liebe nach einem neuen Leben suchte. Von diesem Manne ging eine wunderbare Zuversicht aus.“

Sprichwörtlich gewordene Gedichtzeile

Entsprechend abschätzig äußert sich die positivistische Richtung in der Literaturgeschichte eines Schweizer Geschichtsprofessors von 1875 über den Dichter: „Seine zahlreichen prosaischen Aufsätze über verschiedene Gegenstände der Literatur und des Lebens sind in barockem Stil geschrieben und verraten trotz ihrem erzwungenen Humor den Standpunkt des Philisters, der vor den Stürmen der Zeit zuletzt Zuflucht im Pietismus suchte.“

Diese Einschätzung verkennt das kunstvolle Gewebe dieser Schlichtheit. Claudius stellt sich einfältig. Er gibt vor, den Pastor, den Barbier oder eine Madam zu befragen. Mit sokratischen Wendungen begegnet er dem Publikum. Bücher bespricht er als Leser und nicht als Kunstrichter. Unmittelbare Wirkung wiegt ihm schwerer als ästhetische Maßstäbe. In der Rezension des anonym erschienenen „Werther“-Romans von Goethe trennt er klar zwischen Poesie und Lebensführung: „... wenn du ausgeweinet hast, so hebe den Kopf fröhlich auf und stemme die Hand in die Seite.“

Das Einzelereignis wird in einer kosmischen Ordnung gehalten. Das ganze Leben ist ein Botengang inmitten dauernder Verhältnisse, die sich nach der wechselnden Wiederkehr des Gleichen bemessen. Inmitten des Berichtes über Provinz- und Weltgeschehen fügt der Bote ein: „Wandsbeck, den 25. April. Gestern hat hier die Nachtigall zum erstenmal wieder geschlagen.“

Zwischen 1775 und 1812 veröffentlicht Claudius acht Bände Gedichte und Prosa als „Sämtliche Werke des Wandsbecker Bothen“. Im ersten Band ist ein Titelkupfer des Sensenmanns Freund Hain zu finden: „Ihm dedizier ich mein Buch, und Er soll als Schutzheiliger und Hausgott vorn an der Haustüre des Buchs stehen.“ Die reifsten Gedichte wie „Der Winter ist ein rechter Mann“, „Der Tod und das Mädchen“ oder das unvergleichliche „Abendlied“ entstehen lange nach seiner Redakteurszeit.

Als einziges zeitgenössisches Gedicht nimmt Herder das „Abendlied“ in seine Volksliedersammlung auf. Wer heute anstimmt „Der Mond ist aufgegangen ...“ ist sich kaum bewußt, die Worte eines Dichters der Goethezeit zu singen, so zeitlos volkstümlich wirkt dieses dutzendfach (von Franz Schubert bis Herbert Grönemeyer) vertonte Lied. Mit einer anderen, längst sprichwörtlich gewordenen Wendung hebt Claudius’ Gedicht „Urians Reise um die Welt“ an: „Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was verzählen ...“

Ein Nachklang seiner volkstümlichen Versbildung ereignete sich mit dem Urenkel Hermann Claudius. Der plattdeutsche Mundartdichter verfaßte 1914 in seiner jugendbewegten Phase das Lied „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’“.

Am Ende seines Lebens wird Mat-thias Claudius noch zum Flüchtling. Die wohl tiefste Demütigung der Hamburger während der Franzosenzeit 1813/14 übersteht er in Lübeck. Am 21. Januar vor zweihundert Jahren stirbt der Bote im Haus seines Schwiegersohns, des Verlegers Perthes, auf dem Hamburger Jungfernstieg. Begraben wurde er in Wandsbek.

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