© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/15 / 30. Januar 2015

Für Beweise interessiert sich niemand
Ostukraine: Die Rebellen zeigen sich kompromiß- und rücksichtsloser denn je / Anschläge auf Zivilisten verdeutlichen Eskalation der Gewalt
Billy Six

Die Amateuraufnahmen zeigen Schreckliches: eine Explosion nach der anderen, mitten in einem Plattenbau-Wohnviertel der ostukrainischen Küstenstadt Mariupol. Überraschte Zivilisten rennen um ihr Leben. Von 30 Toten und fast 100 Verletzten sprechen die Kiewer Behörden, welche die Hafenmetropole mit einer halben Million Einwohnern kontrollieren. Staatstrauer. Und wieder einmal weisen sich die Kriegsparteien gegenseitig die Schuld zu.

„Anders als noch im April ist das Pressezentrum der Rebellen in Donezk zunehmend wortkarg geworden. „Die Ukrainer sind Terroristen“, erklärt die Sprecherin gegenüber der JF. „Warum sollten wir sie angreifen, die Donezker Volksrepublik (DNR) hat keine technischen Möglichkeiten dafür.“ Doch wer sich länger in der „Hauptstadt der Volksrepublik“ aufhält, sieht sie ab und an: die mobilen Batterien der Raketenwerfer vom Typ Grad (russ. Hagel). Ihren Einsatz vermutet die OSZE, vermutlich um einen 400 Meter entfernten Posten der ukrainischen Armee zu vernichten. Gerade mal zehn Kilometer östlich von Mariupol verläuft die Front. Die diversen Grad-Modelle sowjetischer Produktion, in der Lage 40 Raketen innerhalb von 20 Sekunden zu verschießen, reichen maximal 13 bis 40 Kilometer weit.

Alexander Sachartschenko (38), seit August DNR-„Ministerpräsident“, hatte zuvor eine „Großoffensive“ angekündigt. Er zeigte sich in den vergangenen Tagen in Militäruniform und bewaffnet am ehemaligen Flughafen von Donezk, der von der ukrainischen Armee geräumt wurde – Ergebnis einer katastrophalen Niederlage, für manche Beobachter in Kiew auch überflüssig, da im völlig zerschossenen neuen Terminal nur eine symbolische, jedoch keine strategische Position verteidigt worden sei.

Sachartschenko zeigt sich in jüngster Vergangenheit verstärkt als kompromiß- und rücksichtslos. Gut zwanzig ukrainische Kriegsgefangene trieb er unter Hohn und Spott durch die Kuprina-Straße im Donezker Leninskij-Distrikt. Bei den friedlichen Soldatenrotationen am Flughafen, überwacht von Offiziellen aus Moskau, trat er öffentlich gar nicht in Erscheinung. Das war Ende Dezember, Anfang Januar. Es folgten Angriffe der Rebellen mit mobilen Einheiten – vor allem aus dem Wohngebiet Oktjaberskij.

Die zivilen Opfer der Gegenschläge markierten den Beginn der jüngsten Eskalation. Den entscheidenden Schub zur Aufgabe sämtlicher diplomatischer Bemühungen bildete der Granatenangriff auf den 17er Bus in Donezk. Neun bis 13 Menschen sollen dabei am 22. Januar umgekommen sein. Ein Ereignis, das viele Fragen aufwirft: Das Pressezentrum verkündet auf JF-Anfrage, die Täter seien verhaftet worden. Details gebe es jedoch nicht. Militärexperte Carsten Bothe schätzt die Reichweite des Pkw-transportierten Mörsers auf maximal zehn Kilometer. Die nächste ukrainische Stellung lag 15 Kilometer entfernt. Hinzu kommt, daß Augenzeugen vor Ort berichten, Abschuß und Anflug des Geschosses von der Seite gehört zu haben – einige hundert Meter entfernt. „Mörserschießen ist ein Teamspiel“, sagt Bothe, früher Bundeswehr-Ausbilder. Das Gelände müsse ausgetestet werden, um das gewünschte Objekt zu treffen. Scheinbar kannten sich die Täter gut aus – nach dem Einzelschuß verschwanden sie.

Die Rebellen sprechen von Terror, Ablenkung und Zersetzungsbemühungen durch ukrainische Geheimagenten. Für Beweise interessiert sich niemand mehr.

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