© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/15 / 30. Januar 2015

Späte Rache der Indios
Reportage aus Bolivien: Der sozialistische Präsident Evo Morales bedient geschickt die Erwartungen der erzkonservativen Bevölkerung des Anden-Staates
Lukas Noll

Nur noch schnell ein wenig Paceña über den Spielzeugminibus, der im Blumenbeet geparkt ist. Dann werden die Hände vor dem Bauch aufgehalten, als würde das Vaterunser gebetet. Wie gut, daß der Prediger nicht die ganze Bierflasche über der kleinen Gedenkstätte ausgeschüttet hat. So bleibt noch ein wenig übrig für alle Beteiligten. Nicht nur die Männer, auch die Cholita genehmigt sich einen Schluck von Boliviens nationaler Biermarke. Ihre beiden langen Zöpfe hängen bis zum traditionellen Rock herunter, dort sind sie nochmals zusammengebunden. Hinter der Familie baut sich ein See auf, bei dem nur schwer das andere Ufer auszumachen ist. Doch die drei Erwachsenen schauen so konzentriert auf das Spielzeugauto, daß sie die Schönheit der Umgebung gar nicht wahrzunehmen scheinen.

Die indigene Kultur durchzieht den Alltag

Warum auch, sind sie doch hier zu Hause am Titicacasee, der mehr ein kleiner Ozean ist als ein See. Und der manchen Besucher deshalb nicht nur mit der für den Andenstaat typischen Höhenkrankheit, sondern auch mit Seekrankheit überrascht. Kein Wunder, daß das durch den Salpeterkrieg zum Binnenland geschrumpfte Bolivien noch immer in skurrilem Stolz seine Marine über die Wellen des 3.810 Meter hoch gelegenen Gewässers schickt. Keine wirkliche Flotte, nur noch kleine Motorboote sind es, die an großen Soldatenstatuen anlegen, die Geschichten von Boliviens „maritimer Macht“ erzählen, die nicht nur dem Gefühl nach aus einem anderen Jahrhundert stammt.

Der Cerro Calvario, auf dem der eigenartige Wallfahrtsort seinen Platz hat, liegt weitere zweihundert Meter höher und läßt jeden einzelnen seiner Pilger wegen der dünnen Luft schwere Buße tun. Bevor die katholische Kirche die Marienverehrung hinaufbrachte, verehrten schon die Qulla hier oben den Katzenkopf Titicaca.

Es folgten die Inka, die den Heiligen See zum Zentrum ihrer Sonnenanbetung machten. Heute mischen sich die Riten der verschiedenen Kulte auf dem Cerro Calvario, der über der putzigen Seestadt Copacabana thront. Und wer auch im neuen Jahr beschützt Bus und Auto fahren will, der kauft sich an einem der Stände hier oben ein Spielzeugauto. Die Auswahl an Spielzeugdevotionalien ist riesig. Statt Weihwasser muß es da auch mal Bier tun. Besser als die gelblich-süße Inkacola, die es aus Peru über den Titicacasee geschafft hat, schmeckt Paceña allemal.

Copacabana ist nicht nur Namensgeber des weltweit berühmtesten Strandes, den die meisten Bolivianer wohl niemals sehen werden. Das Städtchen ist auch ein Wallfahrtsort, wie zugeschnitten auf ein Volk, das sich seine indigene Kultur wie kein anderes in Lateinamerika bewahrt hat und die Sonntagsmesse ganz bequem mit vermeintlich glückbringenden Lamaföten und Hexenmärkten vereinbaren kann.

Sein indianisches Herz versteckt das arme Bolivien nicht, sondern feiert es. Es prostituiert seine Aymara- und Quechua-Identität nicht zum Tourismusschlager, sondern lebt sie. Indios, die sich für ein paar Münzen kurz die indianische Tracht über Polohemd und Nikes werfen, sucht man im Gegensatz zum Rest des Kontinents vergebens. Im Gegenteil: Wer dabei erwischt wird, eine der Cholitas von vorne zu fotografieren, riskiert in Bolivien großen Ärger. Fotos, so raunt es, rauben einer Cholita die Seele.

So prägen die traditionell gekleideten, oftmals kugelrund wirkenden Bolivianerinnen das Straßenbild. In Boliviens heimlicher Hauptstadt, dem Regierungssitz La Paz, zählt man mehr Cholitas als „westlich“ gekleidete Frauen. So indianisch, wie die vom Hochlandleben rauhen, indigenen Gesichtszüge dies glauben machen wollen, ist die Tracht dabei gar nicht. Die „Pollera“, wie der Überrock heißt, unter dem bis zu zehn Unterröcke getragen werden, kam durch die spanischen Kolonialherren nach Bolivien. Die merkwürdige Herrenmelone, welche die meisten Cholitas über ihrer Zopfpracht tragen, wurde versehentlich in so großer Stückzahl aus Italien importiert, daß sie kurzerhand zur bolivianischen Hutmode avancierte – jedoch nur bei der Damenwelt.

In einer Nacht wie dieser muß der steife Filzhut als Mütze dienen, so kalt ist es auf den Straßen von La Paz. Auf Decken hat es sich ein ganzes Dutzend Cholitas an der Hauptstraße in der Nähe des Busbahnhofs notdürftig bequem gemacht. Vor dem Schlafengehen werden noch einmal die Hände gewaschen, in einer schlammigen Pfütze zwischen Straße und Bürgersteig. Vor Denguefieber schützen die Frauen hier nur die das ganze Jahr über kühlen Temperaturen. Die Kinder kuscheln sich an ihre Mütter, auch die Kleinsten, die tagsüber in eine Decke gewickelt auf den mütterlichen Rücken geschnallt sind. Dann nämlich müssen die Cholitas das wenige Geld verdienen, das mit dem Verkauf von Süßigkeiten und anderen Leckereien auf den Straßen der Großstadt zu machen ist. Wenn es irgendwann einmal ein wenig mehr ist, reicht es vielleicht für einen kleinen Stand. Die Konkurrenz von Supermärkten brauchen sie in Bolivien nicht zu fürchten. Vom Haarshampoo über den ungekühlten Fleischspieß bis zum USB-Speicherstäbchen: alles wird auf der Straße gehandelt.

Ein Sozialismus mit ethnischer Attitüde

Doch so schnell wird es nicht dafür reichen, von der Straße wegzukommen oder auch nur hinter einen Stand. Auch morgen nicht. Geschuftet wird weiter, daran besteht kein Zweifel. Darauf stimmt an jedem noch so kühlen Morgen wieder der Schriftzug ein, der Besucher schon beim Verlassen des Busbahnhofs empfängt: „La Paz – nada nos detiene“, prangt da, wo billige Taxen und verspätete Busse durch den braunnassen Schlamm donnern, den der Regen allerorten aus den Löchern zaubert. „Nichts kann uns aufhalten.“

Die verrosteten Lettern mögen ihre besten Tage hinter sich haben. Für Bolivien gilt das nicht. Seit Jahren ist das Land in Aufbruchstimmung, wie verzaubert durch den Wahlsieg des Sozialisten Evo Morales im Jahre 2006. Die Euphorie hat nicht nur eine politische Komponente: Ist Morales doch das erste indianische Staatsoberhaupt Boliviens – in einem Land, in dem Aymara und Quechua zusammen fast 40 Prozent der Bevölkerung stellen, weitergefaßten Definitionen zufolge sogar 68 Prozent indigenen Völkern angehören.

Mit autoritären Methoden hat der stets in Pullover und Lederjacke, wenn nicht im indigenen Janker auftretende Morales das Land umgeformt, die „República“ zum „Estado Plurinacional“ gemacht und die lange Zeit marginalisierte Indio-Mehrheit zur angesehenen Schicht erhoben. Kritiker werfen dem vergangenen Herbst zum zweiten Mal wiedergewählten Präsidenten Amtsmißbrauch und teils sogar Rassismus vor, der herkömmliche Mestizen ohne indianisches Blut nicht mehr in den diplomatischen Dienst aufsteigen läßt. „Einen Sozialismus mit ethnischen Mitteln“ will ein ungenannt bleibender Mestize in Morales’ plurinationalem Staat ausgemacht haben. „Dafür gibt es auch ganz andere Worte.“

Viele Bolivianer scheinen allerdings nur noch auf ein Wort zu schwören, drei in der Parteifarbe blau gesprühte Lettern: EVO. Touristen wird der oberste Indio auf T-Shirts und auf Postkarten verkauft, er lächelt von Werbetafeln und alten Wahlplakaten, die von der verarmten Bevölkerung wie Kunstwerke hängengelassen werden. „Con Evo vamos bien“, ziert im Armutsviertel El Alto, das die eigentliche Stadt La Paz an Bevölkerungszahl mittlerweile überholt hat, beinahe jede zweite Häuserwand. „Mit Evo geht es voran.“

Der Zorn über die Politik vergangener Jahrzehnte, die dem verarmten Volk 2002 sogar das Grundwasser wegprivatisieren wollte, ist einer einschüchternden Siegesgewißheit gewichen. In der reichen Ostprovinz Santa Cruz, die sich vor wenigen Jahren noch mit Autonomiebestrebungen rechtzeitig vom Sozialismus verabschieden wollte, votierten die Wähler im Herbst mehrheitlich für den starken Aymara-Mann. Der erklärte Mao-Bewunderer bezeichnete die Kirche als „Feind des Friedens“, den man „auswechseln“ müsse. Seinen Gegnern verweigerte er vor heiklen Abstimmungen schon den Zutritt ins Parlament.

Doch seine Rezeptur scheint zu wirken, trotz Enteignungspolitik und verängstigten Investoren. Im Gegensatz zu den erfolglosen Gesinnungsgenossen in Venezuela und auf Kuba schreibt Morales schwarze Zahlen, ein Wirtschaftswachstum von stabilen fünf Prozent finanziert die Sozialgeschenke ans „Pueblo“, das Pro-Kopf-Einkommen hat sich innerhalb der letzten zehn Jahre mehr als verdoppelt.

Kein Wunder, hat Morales doch kein an sich schon entwickeltes Land kurzerhand in den Sozialismus gestürzt, wie es Hugo Chávez „Bolivarianische Revolution“ mit Venezuela anstellte. Nein, Morales weiß die sozialistische Agenda geschickt mit dem alternativen Nachhaltigkeitsdenken indianischen Wirtschaftens und einer erzkonservativen Bevölkerung zu verknüpfen, die Konkurrenzdenken verschmäht. Auch Boliviens starker Mann weiß, daß er mit der streikfreudigen und politisch aufmerksamen Bevölkerung so schnell fallen kann, wie er aufgestiegen ist.

Da kommt es gut, wenn der Präsident nicht nur in Bauhelm und Arbeitskleidung posiert, sondern auch Ernst macht. Seit Sommer fährt die erste Gondelbahn von La Paz nach El Alto, noch im selben Jahre folgten zwei weitere Linien aus österreichischer Qualitätsproduktion. 3.000 Passagiere transportiert der Teleférico pro Stunde, er soll La Paz’ Talkessel von Smog und Verkehrschaos entlasten und den Armen das Pendeln erleichtern. Die nächsten fünf Linien in der Stadt für tausend Meter Höhenunterschied sind angekündigt. Dann kann sich die „Stadt des Friedens“ des größten städtischen Seilbahnnetzes der Welt rühmen.

Und wer weiß: Vielleicht bringen die Gondeln eines Tages auch zwei Nationen zusammen, die sowohl ein rücksichtsloser Kapitalismus als auch Morales’ ethnisch angehauchter Sozialismus mit Anlauf auseinanderdividiert haben. Die Seile, sie hängen schon. Und die Gondeln gleiten unentwegt von den Reichenvierteln im Tal hinauf und von den Elendsvierteln im Hochland hinab. Bis sich Bolivien eines Tages in der Mitte trifft, bis aus dem „Estado Plurinacional“ eine Nation wird, ist es noch ein langer Weg.

Foto: Der „Teleférico“, die Seilbahn zwischen La Paz und der 4.050 Meter über dem Meeresspiegel liegenden Vorstadt El Alto: Die rasend schnell wachsende Armenmetropole El Alto wird ganz überwiegend von indigenen Völkerschaften besiedelt – die Cholitas tragen stolz ihre Gewänder (r.)

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