© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/15 / 30. Januar 2015

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Die Statue für George Orwell soll 2016 tatsächlich vor dem Hauptgebäude der BBC in London errichtet werden. Die Entscheidung war umstritten, da Orwell angeblich als „zu links“ galt – merkwürdige Idee im Hinblick auf einen Mann, der den schönen Begriff „tory anarchist“ als Selbstbezeichnung wählte.

Am Wochenende seit langem wieder einmal die taz gekauft; vorherrschender Eindruck: ein Blatt für alte Leute.

Laurent Joffrin, Chefredakteur der Wochenzeitung Libération, äußerte in einem Interview, daß sich in Frankreich eine „diffuse Beunruhigung“ breitmache und deshalb die „Identitätsdebatte“ immer mehr Raum einnehme – „leider“, fügte er hinzu. Die Aversion Joffrins ist auf der Linken sehr verbreitet, weil man dort die ganze Beschäftigung mit „Identität“ – nationaler, kultureller, religiöser – für eine „rechte“ hält. Das ist sachlich falsch. Denn die Linke hat das Thema „Identität“ überhaupt erst entdeckt, weil es in den 1970er Jahren eine Chance bot, irgendwelche Ersatzproletariate in Gestalt von Drittweltvölkern oder regionalen Minderheiten zu schaffen, oder die unterhaltsame Möglichkeit, gestörte Identitäten zu behandeln; letzteres begeistert immer noch, ersteres möchte man am liebsten vergessen, weil irgendwann gar nicht mehr zu leugnen war, daß ein „Recht auf Identität“ den Europäern kaum vorenthalten werden konnte, wenn man es jedem Exoten zugestand. Im übrigen muß die gesamte Propaganda für den Multikulturalismus dauernd auf Identität Bezug nehmen und gleichzeitig jede Rechenschaft darüber meiden, was es bedeutet, bedeuten muß, daß menschliche Identität immer auf soziale Einheiten Bezug nimmt, die Bastelangebote der „Vielfalt“ das lediglich verschleiern, bestenfalls unter den komfortablen Bedingungen der letzten eineinhalb Jahrzehnte eine gewisse Plausibilität gewannen und nun ihre ganze Dürftigkeit enthüllen.

Demnächst werden die Übersetzungen von Orwells „1984“ ins Bretonische, ins Okzitanische und ins Furlanische fertiggestellt, eine ins Kurdische ist vorbereitet, genauso wie eine Neuverfilmung des Buches und eine erste Adaption von „Die Farm der Tiere“. In den letzten drei Jahren sind die mit Büchern von Orwell erzielten Umsätze aufgrund steigender Nachfrage jeweils um zehn Prozent gestiegen.

Die neueste Volte in der Debatte um den Pariser Anschlag: Aufrechnung der NSU-Morde gegen die Tötung der Redakteure, des faktischen islamistischen Terrors gegen den imaginierten der Gegenseite.

Bildungsbericht in loser Folge LXX: „Es gibt eine Realität, in der Eltern glauben, Lehrer zu jeder Zeit belästigen und sie für alles verantwortlich machen zu können, und in der Lehrer tatsächlich nur Erfüllungsgehilfen für fehlgeleitete Vorstellungen von ihren Kindern sein sollen. Nicht selten haben die Eltern damit Erfolg, weil sie Druck ausüben. Um dieses immer größer werdende Problem zu thematisieren, ist auch das Mittel der Überzeichnung recht. Mit anderen Worten: Es ist Payback-Zeit im Klassenzimmer. Es ist Zeit, daß der Respekt vor den Lehrern wiederhergestellt wird, und zwar jener der Eltern.“ (Jan Wiele zu Sönke Wortmanns Film „Frau Müller muß weg“)

Die Erwägung, einen „Spuckschutz“ für Polizeibeamte einzuführen, hat natürlich in erster Linie hygienische Gründe. Aber es ist nicht zu verkennen, daß das Anspucken eines anderen nicht nur ein Gesundheitsproblem darstellt und nicht nur als Ausdruck von Verachtung zu werten ist, sondern ältere, magische Ursprünge hat. Die sind in unserem Kulturkreis bloß als zarte Andeutung beim „Toi, toi, toi“ über die Schulter des Schauspielers zu erkennen, aber das Potential der Spucke eines afrikanischen Häuptlings galt in jüngster Vergangenheit noch als so groß, daß ein Höfling mit nichts anderem beauftragt war, als den Spucknapf zu hüten und die Substanz an versteckter Stelle zu begraben, damit sich kein Unberufener ihrer bedienen konnte.

„Es ist aber nicht der Staat glücklich zu preisen, welcher von allen Enden her aufs Geratewohl viele Bürger anhäuft, sondern derjenige, welcher den Stamm der von Anbeginn angesiedelten am besten erhält.“ (Isokrates, Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr.)

Die Kritik, die Gabriel für sein „privates“ Gespräch mit Pegida-Anhängern einstecken mußte, erklärt sich leicht: das Kommando war „Flucht nach vorn!“, da wirkt jeder Blick zurück oder zur Seite riskant.

Zu den guten Nachrichten gehören die exorbitanten Preise, die man für antiquarische Exemplare einiger Dumont-Kunstreiseführer zahlen muß.

„Wenn Freiheit überhaupt irgend etwas bedeutet, dann das Recht, den Leuten zu sagen, was sie nicht hören wollen.“ (George Orwell)

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 13. Februar in der JF-Ausgabe 8/15.

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