© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/15 / 30. Januar 2015

Redeverbote und Politische Korrektheit
Die ganze Freiheit soll es sein
Konrad Adam

Freiheit hieß die Parole, unter der sich die Franzosen gegen ihre Feudalherren empört hatten. Ihre Nachbarn folgten demselben Ruf, als sie versuchten, ihre von Gottes, nicht von Volkes Gnaden regierenden Herrscher loszuwerden. Mit dieser einfachen Devise wollen sich die Berufseuropäer von heute aber nicht zufriedengeben, sie bieten und versprechen mehr: statt der Freiheit im Singular vier Freiheiten im Plural, den freien Verkehr von Waren und von Kapital, von Arbeitskräften und von Dienstleistungen – vier Freiheiten statt einer.

Das sieht nach einem guten Handel aus; ist allerdings ein schlechter. Das zu begreifen, tun sich die Fachleute für Wirtschafts- und Währungsfragen jedoch schwer; sie kennen den Preis von allem, aber den Wert von nichts. Und weil es diese Leute sind, die in Europa den Ton angeben, verstehen sie nicht, wie schlecht es heute um die Freiheit steht.

Der Wiener Johann Nestroy, erfahren im Umgang mit der politischen Zensur, wußte es noch besser. Freiheit, heißt es in einer seiner hintersinnigen Possen, Freiheit sei zwar ein schönes Wort, „aber nur in der einfachen Zahl unendlich groß. Drum hat man sie uns auch immer nur in der wertlosen vielfachen Zahl gegeben.“ Sogar Gedankenfreiheit hätten die Wiener genossen – „insofern wir die Gedanken bei uns behalten haben“. Für die Gesinnung habe es eine Art Hundsverordnung gegeben, „man hat’s haben dürfen, aber am Schnürl führen; wie man’s loslassen hat, haben’s ein’ erschlagen. Mit einem Wort“, resümiert Nestroy, „wir haben eine Menge Freiheiten g’habt, aber von Freiheit keine Spur.“

Gut hundertfünfzig Jahre ist das her, und immer noch so aktuell wie damals. Und nirgends aktueller als in der Europäischen Union, die mittlerweile jenes Machtgebilde verkörpert, das zu Nestroys Zeiten die Geheimpolizei des allmächtigen Fürsten Metternich war. Heute sind Legionen von hochbezahlten Leuten in Brüssel und anderswo unterwegs, um alle möglichen Freiheiten zu verkünden, zu befördern und durchzusetzen; nur eben jene eine nicht, die Freiheit im Singular, die darin besteht, alles zu denken, zu sagen und zu tun, was einem anderen nicht schadet – so die schöne Formulierung aus der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte.

Wir dürfen kaufen, was wir wollen; arbeiten, wo wir wollen; gehen, wohin wir wollen; spekulieren, mit was wir wollen – nur aussprechen, was wir wollen, das dürfen wir nicht. Das verwehrt uns eine allmächtige und allgegenwärtige Gedankenpolizei, die mit sanfter, aber unerbittlicher Gewalt die Grenzen überwacht, innerhalb derer wir denken und reden sollen. Sie bestimmt, was politisch korrekt ist und was nicht. Und wie die Bürger, die diese Grenzen überschreiten, zu bestrafen sind, bestimmt sie selbstverständlich auch.

Der moderne Zensor geht mit der Zeit. Er macht ein freundliches Gesicht (sofern man ein Gesicht wie das von Martin Schulz denn freundlich nennen will). Aber das täuscht. Schulz selbst hat die Katze aus dem Sack gelassen, als es um die Bestätigung eines Kandidaten ging, der über die Homosexualität nicht genauso denken wollte wie er selbst. Es half dem armen Kandidaten nichts, daß er zwischen seinen amtlichen Verpflichtungen und seiner privaten Meinung deutlich unterschied und klarmachte, daß er als Kommissar die europäischen Richtlinien und Vorschriften gewissenhaft beachten werde. Schulz ließ nicht locker, fragte nach, verlangte Zustimmung zu seiner Ansicht; und als der Kandidat die nicht geben wollte und bei seiner Ansicht blieb, ließ Schulz ihn durchfallen.

Offenbar versteht sich die EU als eine Glaubensgemeinschaft, die ihre Dogmen im Wege von Sprachregelung und Gesinnungsdruck durchsetzt. Der ganze Kontinent soll mit nur einer Stimme sprechen, der Stimme der Kommission und ihrer Koryphäen.

Offenbar versteht sich die Europäische Union als eine Glaubensgemeinschaft, die ihre Dogmen im Wege von Sprachregelung und Gesinnungsdruck durchsetzt. Der ganze Kontinent soll mit nur einer Stimme sprechen, der Stimme der Kommission und ihrer Koryphäen. Wer anders denkt und fühlt, muß einlenken, sich bekehren oder den Mund halten.

Erfindungen wie die Quote, die Inklusion, die Genderei, die Homo-, Trans- und Islamophobie sind nur die bekanntesten unter den Glaubensartikeln, die von Brüssel aus europaweit vertrieben werden. Die Älteren unter uns werden sich noch an die Zeit erinnern, in der für gleiche Chancen, gleiches Recht und gleiche Stellung öffentlich geworben werden mußte; doch diese Zeit ist längst vorbei. Als ich vergangenes Jahr wieder einmal in Berlin war, feierte man dort den Christopher Street Day. Auf der Potsdamer Straße kam mir eine Art Karnevalszug entgegen, dessen Teilnehmer in der Öffentlichkeit Kunststücke zeigten, für die unsereiner die Öffentlichkeit eher meiden als suchen würde. Neben mir stand ein Gemüsehändler, der seinen Laden kurz verlassen hatte, um dem bunten Treiben zuzusehen. Nach kurzer Zeit schüttelte er den Kopf und ging mit den Worten: „Und die wollen unterdrückt sein!“ zurück in seinen Laden.

Der Mann hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Ähnlich wie das Kind in Andersens bekanntem Märchen, das als einziges den nackten Kaiser nackt zu nennen wagt, hatte er ausgesprochen, was viele von uns denken, angesichts des öffentlichen Meinungsdrucks aber lieber bei sich behalten: daß die Diskriminierten von gestern die Privilegierten von heute sind. Und daß sie ihren Opferstatus um so wütender verteidigen, je weniger von ihm noch übrig ist. Sie wollen beides, die Rolle des Opfers und die Pose des Siegers, und machen gegen jeden mobil, der sie daran erinnert, daß sich das eine mit dem anderen nur schlecht verträgt.

Wie man das anstellt, hat Klaus Wowereit vorgemacht. In seiner Autobiographie berichtet er voller Stolz von der gewaltigen Resonanz auf sein öffentlich vorgetragenes Bekenntnis, „schwul“ zu sein. Ein einziger Satz habe ihn in den Himmel der öffentlichen Aufmerksamkeit geschossen; tags darauf habe er sich vor Anfragen und Einladungen kaum noch retten können; Talkmaster aus dem ganzen Land hätten um seinen Auftritt regelrecht gebuhlt; einer von ihnen habe sogar ein Privatflugzeug geschickt, um ihn am Abend mit dabei zu haben; und so weiter.

Für ihn hat sich die Sache also ausgezahlt. Und das läßt fragen, was denn an einem Schritt so mutig sein soll, der sich so glänzend rentiert. Wowereit ist nicht das einzige Beispiel dafür, daß die Erzählung vom unterdrückten Schwulen, der seine Neigung bei Strafe öffentlicher Ächtung verstecken muß, nicht mehr stimmt. Statt verfolgt oder verfemt zu werden, bringt das Bekenntnis mittlerweile etwas ein; denn ohne den berühmten Satz „Ich bin schwul, und das ist auch gut so“ hätte Wowereit wohl doch noch etwas länger auf den Bürgermeistertitel warten müssen.

Daß sein Auftritt gut für ihn selbst gewesen ist, steht außer Frage; ob er auch gut war für die Stadt, dürfte nach der Flughafen-Pleite, die Wowereit in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Aufsichtsrats mit zu verantworten hat, nicht ganz so sicher sein. Sind fünf Milliarden öffentlicher Mittel als Preis für ein privates coming out nicht doch etwas zuviel?

So wird man immer weiter fragen können. Wer dem Zeitgeist folgt, erlebt eine Überraschung nach der anderen. Wenn Kindern, die aus dem natürlichsten von allen Gründen weniger leistungsfähig sind als andere, die besondere Förderung, auf die sie doch Anspruch hätten, vorenthalten wird, sprechen die Progressiven von gelungener Inklusion. Wenn die forcierte Gleichstellungspolitik dazu führt, daß begabte Nachwuchskräfte bei der Bewerbung um eine aussichtsreiche Stelle nur deshalb nicht zum Zuge kommen, weil sie das falsche, nämlich männliche Geschlecht haben, behaupten sie, den Auftrag der Verfassung zu erfüllen.

Wir wissen, was auf dem Spiel steht, wenn die Regierung von uns Bürgern politische Glaubensbekenntnisse gleich welcher Art verlangt. Wir wollen nicht zurück in eine Welt, in der die Kritik verdächtig, der Zweifel gefährlich und der Widerspruch verboten ist.

Wenn Leuten, die gar nicht daran denken, die Gesetze des Landes, das ihnen Zuflucht geboten hat, zu befolgen, das Gastrecht entzogen werden soll, wird das als Angriff auf die Menschlichkeit bekämpft. Wo der Zeitgeist weht, reiht sich eine politisch korrekt verpackte Lüge an die andere. Unwillkürlich denkt man an den Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, der seine politische Erfahrung in den Satz zusammenfaßte: „Wenn es ernst wird, muß man lügen.“

Die Kunst der Wortkosmetik ist uralt. Thukydides, der Historiker des Peloponnesischen Krieges, hat von ihr berichtet. Er deutet es als Zeichen der Verrohung, daß seine Zeitgenossen dazu übergingen, Verwegenheit als Mut, Besonnenheit als Feigheit und anständiges Verhalten als Dummheit zu bezeichnen. Inzwischen sind wir zweieinhalbtausend Jahre und einige Lektionen weiter. Wir haben die Lüge selbst zum Gegenstand der Schönfärberei gemacht und sprechen statt von Täuschung lieber von Werbung und Kommunikation, von Expertise, Analyse und Beratung.

Heerscharen von Spezialisten sind damit beschäftigt, alte Wahrheiten durch neue Lügen zu ersetzen: Opportunismus heißt jetzt Zivilcourage, Dogmatik wird als Toleranz verkauft, der Krieg mutiert zur humanitären Intervention, wer Aufklärung sagt, will den Leuten über den Mund fahren, und Pädophile geben sich als Pädagogen aus. Tagtäglich werden uns diese politisch korrekt verpackten Lügen vorgekaut; und wenn das oft genug geschehen ist, werden sie von uns geschluckt. Einer Zensur bedarf es dann nicht mehr; der Eingriff, das Verbot, die Strafe werden überflüssig, weil die Zuwiderhandlung nicht mehr möglich ist. Die Sprache hat die Wahrnehmung, die Wahrnehmung die Wirklichkeit verändert.

Auf diesen Mechanismus verlassen sich die Herrschenden, wenn sie uns alle möglichen Freiheiten garantieren, die Redefreiheit aber nicht. Sie wissen schon, warum. Wenn sie die Sprache politisch korrekt zugerichtet haben, läuft die Gedanken-, die Meinungs- und die Pressefreiheit leer. In seinem düsteren Zukunftsroman „1984“ läßt George Orwell den Großen Bruder behaupten, daß es Realität als etwas außerhalb und unabhängig von der menschlichen Vorstellungskraft Bestehendes gar nicht gebe. Die Wirklichkeit, doziert er, existiere im menschlichen Denken „und nirgendwo sonst“. Er zieht daraus auch gleich die fällige Konsequenz, indem er eine zweite Wirklichkeit entwirft, in der zwei mal zwei nicht mehr vier, sondern fünf ergibt. Wenn das nur oft genug wiederholt wird, glauben es die Leute.

Die Grenzen meiner Sprache, hat ein kluger Mann einmal gesagt, sind die Grenzen meiner Welt. Sollte das richtig sein, versperrt man uns die Welt, indem man die Sprache entstellt, verkrüppelt und beschneidet. Das sollten wir uns nicht gefallen lassen. Wir wollen nicht zurück in eine Welt, in der die Kritik verdächtig, der Zweifel gefährlich und der Widerspruch verboten ist. Glaubensgemeinschaften neigen zu Glaubenskriegen, für die ein Preis zu zahlen ist, der mir auch dann zu hoch erscheint, wenn er nicht mehr mit Feuer und Schwert, sondern mit den Methoden einer wildgewordenen Sprachpolizei eingetrieben wird.

Wir haben aus der Geschichte gelernt und wissen, was auf dem Spiel steht, wenn die Regierung von uns Bürgern politische Glaubensbekenntnisse gleich welcher Art verlangt. Das müssen wir nicht hinnehmen. Wir wollen keine Obrigkeit, die Vielfalt durch Einfalt ersetzt und unter dem Vorwand der Harmonisierung Gleichmacherei betreibt. Mit einem Wort: Wir wollen Freiheit, Freiheit im Singular statt Freiheiten im Plural. Wir wissen ja, wie es dann weitergeht: zunächst ist das erlaubt, was nicht verboten ist; dann das verboten, was nicht erlaubt ist; schließlich auch das verboten, was früher einmal erlaubt war. So geht es, wenn man die Freiheit zerteilt und als Stückwerk unter die Leute bringt. So wollen wir sie aber nicht, wir wollen die ganze.

 

Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, Publizist, war Feuilletonredakteur der FAZ und bis 2007 Chefkorrespondent der Welt. Adam ist einer von drei gleichberechtigten Sprechern der AfD. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die „Angst vor dem Volk“ (JF 31-32/14).

Foto: Adler im Flug als Symbol der Freiheit: Wir dürfen kaufen, was wir wollen; arbeiten, wo wir wollen; gehen, wohin wir wollen; spekulieren, mit was wir wollen – nur aussprechen, was wir wollen, das dürfen wir nicht. Das sollten wir uns nicht gefallen lassen.

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